Molekül gegen HIV: kleine Änderung, große Wirkung

Pressemitteilung (Neues aus der Forschung) der TU München vom 09.08.2012

Potenzieller Wirkstoff-Kandidat gegen AIDS zeigt erhöhte Aktivität

Im Kampf gegen AIDS haben Wissenschaftler einen neuen viel versprechenden Therapieansatz gefunden – mit denkbar einfachen Mitteln. Obwohl sie die Form eines bereits bekannten synthetischen Anti-HIV-Moleküls nur leicht veränderten, erzielten sie eine große Wirkung: Das neue Mini-Protein dockt besser an CXCR4-Rezeptoren auf der Oberfläche von Immunzellen an, einem bevorzugten Angriffspunkt für häufig vorkommende HIV-Varianten. Damit ist dem Aids-Erreger der Eintritt in die Zellen verwehrt, die Viren können sich nicht weiter im Organismus ausbreiten. Diese Resultate wurden kürzlich in der internationalen Ausgabe des Fachmagazins „Angewandte Chemie“ veröffentlicht.

Die unterschiedlichen Erreger des HIV-1-Virenstammes verschaffen sich Zugang zu den Immunzellen, indem sie an die Zell-Rezeptoren CCR5 oder CXCR4 andocken. An diese Bindungsstellen heften sich üblicherweise körpereigene Botenstoffe, so genannte Chemokine. Während es bereits ein CCR5-spezifisches HIV-Medikament gibt, ist für CXCR4 bisher kein Arzneimittel zugelassen. Da das neue, ringförmige Peptid – ein Mini-Protein – den CXCR4-Rezeptor für das Virus blockiert, könnte es sich als ein interessanter Wirkstoff-Kandidat gegen HIV und AIDS erweisen.

Das Forschungsprojekt wurde von Wissenschaftlern vom Lehrstuhl für Pharmazeutische Radiochemie und am Institute for Advanced Study der TUM initiiert und gemeinsam mit Molekularbiologen der Universität Neapel und Virologen des Helmholtz Zentrum München durchgeführt. Die TUM-Wissenschaftler um Prof. Dr. Hans-Jürgen Wester und Prof. Dr. Dr. h.c. Horst Kessler hatten ursprünglich an einem neuen Bildgebungs-Verfahren für Tumore gearbeitet. Dafür nutzten sie ringförmige Proteinschnipsel, die sie veränderten, um ihre spezifische Bindung an den CXCR4-Rezeptor zu erhöhen. Dabei erkannten sie, dass diese Methode auch ein enormes Potenzial für die Arzneimittelforschung birgt.

Die Wissenschaftler bauten das Peptid mit einem einfachen Trick um: Sie verschoben eine Aminosäuren-Seitenkette von Kohlenstoff zu einem benachbarten Stickstoff-Atom. So veränderten sie die Grundstruktur des Moleküls zwar nur geringfügig – seine biologischen Eigenschaften dafür umso mehr: Die Bindungsgruppen des Peptids befinden sich jetzt in einer optimalen Stellung, um an den CXCR4-Rezeptor anzudocken. Damit bindet das Peptid 400- bis 1.500-mal besser an CXCR4 als bisher bekannte andere Verbindungen, die derzeit als Wirkstoffe getestet werden.

Zudem weist das künstliche Peptid Merkmale auf, die seinen Einsatz im Organismus begünstigen. Sein besonderer chemischer Aufbau schützt das ringförmige Molekül vor der Zerstörung durch körpereigene Enzyme. Da CXCR4-Rezeptoren auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Krebsmetastasen spielen, benutzen die Münchner Forscher eine abgewandelte Form dieses Moleküls bereits für die Bildgebung von Tumoren.

„Wir freuen uns, dass wir mit unserem neues Peptid-Design einen Wirkstoff entwickelt haben, den wir für die Therapie lebensbedrohender Krankheiten anwenden können“, sagt Prof. Horst Kessler, ein Senior Fellow im TUM Institute for Advanced Study und „Emeritus of Excellence“ in der Fakultät für Chemie. „Das Molekül könnte eine wirksame Waffe gegen besonders aggressive HIV-1-Stämme sein. Diese Viren finden wir häufig bei Patienten, die seit langer Zeit HIV-infiziert sind“, ergänzt Prof. Ruth Brack-Werner, Virologin am Helmholtz Zentrum München. „Verbindungen dieser Art bieten ungeahnte Möglichkeiten für die Entwicklung neuer Medikamente“, erklärt Prof. Hans-Jürgen Wester, Leiter des Lehrstuhls für Pharmazeutische Radiochemie. „Wir warten daher mit großer Spannung auf die ersten präklinischen und klinischen Tests.“

Die Forschungsarbeit wurde von der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder (TUM-IAS, Center of Integrated Protein Research Munich), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG SFB 824, Unterprojekt B5) und dem Helmholtz Zentrum München unterstützt.

Originalpublikation:
A Conformationally Frozen Peptoid Boosts CXCR4 Affinity and Anti-HIV Activity. Oliver Demmer, Andreas O. Frank, Franz Hagn, Margret Schottelius, Luciana Marinelli, Sandro Cosconati, Ruth Brack-Werner, Stephan Kremb, Hans-Jürgen Wester, and Horst Kessler. Angewandte Chemie Int. Ed.  2012, 51, 8110-8113, DOI: 10.1002/anie.201202090

Externer Link: www.tu-muenchen.de

Kontrollierte chemische Reaktionen mit einzelnen lokalisierten Molekülen

Medienmitteilung der Universität Basel vom 07.08.2012

Forschern der Universität Basel ist es erstmals gelungen, einen Ladungstransfer mit einzelnen lokalisierten Molekülen durchzuführen und zu analysieren. In Kombination mit Computersimulationen konnten sie aufzeigen, wie Energie im Verlauf einer chemischen Reaktion umgewandelt wird. Die Ergebnisse wurden als Titelthema im renommierten Fachjournal «Chemical Physics Letters» veröffentlicht.

Die Reaktivität einer chemischen Verbindung, also ihre Fähigkeit in einer chemischen Reaktion umgesetzt zu werden, wird massgeblich durch ihren Energieinhalt beeinflusst. Dieser wiederum äussert sich in der Bewegung der Moleküle. So kann sich ein Molekül im Raum bewegen (Translation), drehen (Rotation) oder schwingen (Vibration). Gelingt es, die einzelnen Formen der molekularen Bewegung gezielt zu manipulieren, kann man ihren Einfluss auf die chemische Reaktivität untersuchen und ausnutzen. Diese absolute Kontrolle über Moleküle und ihre Reaktionen ist ein wichtiges Ziel in der Chemie.

Eine Kontrolle der Geschwindigkeit (Translationsenergie) gelingt durch eine extreme Abkühlung nahe an den absoluten Nullpunkt (ca. -273 °C). In den Experimenten am Departement Chemie der Universität Basel haben die Forscher im Ultrahochvakuum einzelne elektrisch geladene Moleküle im elektrischen Feld einer Ionenfalle festgehalten und durch den Kontakt mit lasergekühlten Calcium-Ionen in einem sogenannten Coulomb-Kristall fixiert.

Die Arbeitsgruppe um Prof. Stefan Willitsch im Departement Chemie hat diese Methode verfeinert, indem sie die Vibrations- und Rotationsenergie der Molekülionen bereits vor der Abkühlung festgelegt hat und somit die wichtigsten Bewegungsformen der Moleküle präzise kontrollieren konnte. Die räumliche Fixierung der Teilchen steigerte die Empfindlichkeit des Experiments zusätzlich und ermöglichte die Untersuchung chemischer Prozesse mit einzelnen isolierten Molekülen.

Beim Ladungstransfer, den die Forscher untersucht haben, wird die positive Ladung von einem Stickstoffmolekül auf ein anderes übertragen. Diese Reaktion wurde in der Arbeitsgruppe Willitsch so umgesetzt, dass sie einen Strahl von N2-Molekülen mit lokalisierten N2+-Molekülionen jeweils definierter Energie kollidieren liess. Die Interpretation der Messergebnisse gelang mithilfe von Computersimulationen, welche die Gruppe von Prof. Markus Meuwly durchführte. Im Zusammenspiel von Theorie und Experiment konnten die Forscher erstmals detailliert zeigen, wie im Verlauf eines Ladungstransfers Translationsenergie in Rotationsenergie umgewandelt wird.

Die Forscher erhoffen sich von diesen hochpräzisen Experimenten ein tieferes Verständnis der chemischen Reaktivität, was letztlich zu einer besseren Kontrolle chemischer Reaktionen führen soll.

Originalbeitrag:
Xin Tong, Tibor Nagy, Juvenal Yosa Reyes, Matthias Germann, Markus Meuwly, Stefan Willitsch
State-selected ion-molecule reactions with Coulomb-crystallized molecular ions in traps
Chemical Physics Letters (2012), published online 27 June 2012 | doi: 10.1016/j.cplett.2012.06.042

Externer Link: www.unibas.ch

Neue Technologie ermöglicht tiefen Blick in Proteinstrukturen

Medienmitteilung der Universität Basel vom 09.07.2012

Proteine können ihre biologischen Aufgaben nur dann korrekt erfüllen, wenn sie eine stabile räumliche Struktur einnehmen. Dabei festigen unzählige Wasserstoffbrücken die Proteingebilde. Mit einem neuartigen Messverfahren, der Kernmagnetresonanzspektroskopie (NMR) unter hohem Druck, ist es nun Prof. Stephan Grzesiek und Dr. Lydia Nisius vom Biozentrum der Universität Basel gelungen, einen bisher einmaligen Einblick in das Netzwerk von Wasserstoffbrücken und deren Bedeutung für die Proteinstabilität zu gewinnen. Die Ergebnisse sind im renommierten Fachjournal «Nature Chemistry» veröffentlicht.

Proteine bestehen aus einer Abfolge von Aminosäuren und übernehmen wichtige physiologische Funktionen, wie beispielsweise den Transport von Stoffwechselprodukten. Damit die Proteine ihre physiologischen Aufgaben in der Zelle wahrnehmen können, müssen sie durch Faltungen ihrer linearen Aminosäurekette eine stabile dreidimensionale Struktur bilden. Diese räumliche Anordnung wird unter anderem durch ein Netzwerk aus Wasserstoffbrücken bestimmt. Bisher war allerdings unklar, welche Wasserstoffbrücken genau für die Stabilität der Struktur von Bedeutung sind. Mit einer kürzlich entwickelten NMR-Methode unter Einsatz einer neuen Hochdruckzelle gelang es Prof. Stephan Grzesiek und Dr. Lydia Nisius nun erstmals, die Stabilität von Wasserstoffbrücken des Proteins Ubiquitin vollständig zu charakterisieren.

Stabile Wasserstoffbrücken über weite Distanzen

Die Stabilität von thermodynamischen Systemen, wie es Proteine sind, kann durch Druck- und Temperaturveränderungen analysiert werden. Am Modellprotein Ubiquitin untersuchten die Wissenschaftler wie jede einzelne der 31 Wasserstoffbrücken zur Stabilität der Proteinstruktur beiträgt. Dafür wurde jede Wasserstoffbrücke bei sich ändernden Druck- und Temperaturverhältnissen genau ausgemessen. Durch die neue Druckzelle war es möglich, das Protein im NMR-Gerät einem Druck von bis zu 2’500 bar auszusetzen. Dies entspricht dem Schweredruck einer Wassersäule von 25 Km Höhe. Dabei erwiesen sich Wasserstoffbrücken, die in der Sequenz benachbarte Aminosäuren verbinden, als besonders stabil, während Brücken zu entfernten Aminosäuren generell instabiler waren.

Erstaunlicherweise zeigten sich jedoch Ausnahmen zur Regel: Wasserstoffbrücken, die wichtige Stellen des Ubiquitins miteinander verbinden, können gleichzeitig sehr grosse Entfernungen überspannen und trotzdem extrem stabil sein. Dies betraf vor allem den Teil der Struktur, mit der Ubiquitin an andere Proteine bindet. Ubiquitin ist in der Zelle unter anderem für die Qualitätskontrolle der Proteine zuständig. Indem es sich an fehlerhaft gefaltete Proteine anhängt, markiert es diese für den Abbau. Die spezifische Stabilisierung der Struktur an dieser Bindungsstelle ist demnach sehr wichtig, um die Proteinstruktur unter mechanischem Stress in der Zelle zu bewahren und damit seine korrekte Funktion zu gewährleisten.

Zukunftsweisende Hochdruck-NMR Technologie

Mit der genauen Charakterisierung von Ubiquitin durch Hochdruck-NMR konnten Nisius und Grzesiek nicht nur die hohe thermodynamische Stabilität dieses Proteins erklären, sondern zudem die Teile der Struktur identifizieren, die dafür verantwortlich sind. Die Arbeit gibt Einblicke in die vielseitigen und sich ständig erweiternden Möglichkeiten der NMR-Spektroskopie. Mit dem Einsatz dieser neuartigen Technologie können über die reinen Strukturinformationen hinaus auch Erkenntnisse zu den thermodynamischen Eigenschaften von Biomolekülen und so zum Verständnis ihrer Funktion gewonnen werden.

Originalbeitrag:
Lydia Nisius and Stephan Grzesiek
Key stabilizing elements of protein structure identified through pressure and temperature perturbation of its hydrogen bond network
Nature Chemistry, published online 8 Jul 2012 | doi:10.1038/nchem.1396

Externer Link: www.unibas.ch

Tanz der Moleküle, chemisch choreographiert

Pressemitteilung der Universität Stuttgart vom 11.07.2012

Neue Methodik für die templatgesteuerte Synthese

Der Aufbau neuer genetischer Abschnitte gleicht auf der molekularen Ebene einem Paartanz, bei dem sich zwei Partner die Hände reichen: Ein Partner befindet sich in einer bereits existierenden Kette von Buchstaben, der andere schließt ihn in die Arme. In der Natur wird dieser Vorgang von einer komplizierten Enzym-Maschinerie gesteuert – ob es auch ohne sie geht, versuchen Chemiker seit Jahren herauszufinden. Andreas Kaiser, Sebastian Spies und Prof. Clemens Richert vom Institut für Organische Chemie der Universität Stuttgart haben nun Bedingungen gefunden, die eine spontane Paarbildung zu lassen und berichten darüber in der aktuellen Ausgabe der führenden Fachzeitschrift „Angewandte Chemie“. Das Verfahren könnte neuartige diagnostische Tests in der Genforschung ermöglichen.

Wissenschaftlich gesprochen lagern sich bei dem Paartanz Moleküle, deren Gestalt komplementär ist, durch schwache Wechselwirkungen zusammen, so dass ein enger Kontakt entsteht. Dieses Prinzip der „molekularen Erkennung“ wird auch von der Natur genutzt: Millionfach lagern sich die Buchstaben des genetischen Alphabets an eine existierende Buchstabensequenz (ein Gen) an und bilden einen Tochterstrang. So werden Gene dupliziert, bevor sich Zellen teilen, und jede Tochterzelle erhält eine komplette Kopie der genetischen Information. In der Zelle sorgt eine komplizierte Enzym-Maschinerie dafür, dass alle Reaktionen schnell genug ablaufen und dass sich immer die passenden Buchstaben an die existierende Vorlage (Templatstrang) anlagern, also die Basenpaarungs-Regeln der DNA-Forscher James Watson und Francis Crick befolgt werden.

Seit Jahren versuchen Chemiker herauszufinden, ob die Paarbildung zwischen den Einzelbuchstaben und der Vorlage auch ohne die enzymatische Maschinerie spontan, allein aufgrund der Struktur der Bausteine ablaufen kann. Bisher war es möglich, kurze DNA-Abschnitte rein chemisch aufzubauen. Die Bedingungen für diese Synthesen sind aber so streng, dass eine Paarbildung unterdrückt wird.

Die Gruppe um Prof. Richert von der Universität Stuttgart fand nun Bedingungen, die die Paarbildung zulassen und deren chemische Reaktionsfreudigkeit dennoch ausreicht, um einen Kettenaufbau zu erlauben. Sie zeigten, dass so genannte „Schutzgruppen“ an der reaktiven Stelle der Einzelbuchstaben eine Freilegung der Reaktivität zu einem gewünschten Zeitpunkt ermöglichen. Erst wenn ein bestimmtes Reagenz zugegeben wird, kommt es zur Verknüpfung. Diese Bedingungen sind so „mild“, dass die spontane Paarbildung nicht gestört wird. Die Stuttgarter Chemiker konnten so bis zu zehn rein chemische Einbauschritte verfolgen und darüber hinaus zeigen, dass das Wachstum der Tochtersequenz nicht nur an einem Ende sondern sogar gleichzeitig an beiden Enden erfolgen kann. Dies lässt die Natur mit ihrer ausgeklügelten enzymatischen Maschinerie nicht zu.

Das neue Verfahren, das Charakteristika bekannter chemischer Syntheseverfahren mit biologisch inspirierten Schritten vereint, könnte es in Zukunft ermöglichen, die Sequenz von krankmachenden Genen leichter auszulesen. Auch für den spontanen Aufbau von kleinsten Formteilen könnte die Methodik interessant werden. Man spricht hier von DNA-Nanostrukturierung. Zunächst aber plant die Stuttgarter Gruppe Versuche, bei denen die Abfolge mehrerer spontaner „molekularer Tänze“ wie in einem Film aufgezeichnet werden können.

Publikation:
Andreas Kaiser, Sebastian Spies, Tanja Lommel, Clemens Richert: Template-Directed Synthesis in 3′- and 5′-Direction with Reversible Termination, Angewandte Chemie

Externer Link: www.uni-stuttgart.de

Halogenbrücken bereichern die Wirkstoffforschung

Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 31.05.2012

Pharmazeuten der Universität Tübingen präsentieren neues Konzept für die Erforschung von Tumortherapien

Halogene – besonders die Elemente Chlor, Brom und Iod – besitzen einzigartige Eigenschaften, mit denen sie die Interaktion zwischen Molekülen positiv beeinflussen können. Diese Wechselwirkungen werden mit dem Begriff „Halogenbrücken“ (engl.: „Halogen Bonding“) bezeichnet. Das Phänomen der Halogenbrücken ist seit Längerem im Bereich der Materialwissenschaften bekannt, hatte aber bisher wenig Bedeutung in den Lebenswissenschaften. Dabei können solche Halogenbrücken gerade auch die Erkennung von kleinen therapeutisch einsetzbaren Molekülen durch ihre biologischen Zielstrukturen beeinflussen.

Tübinger Wissenschaftler zeigen nun erstmals, wie Halogenbrücken für Krebstherapien nutzbar gemacht werden könnten. Professor Frank Böckler und seine Mitarbeiter präsentierten dabei ein neues Konzept für eine moderne Methode der Wirkstoffforschung, die „Fragmentbasierte Leitstruktur-Entwicklung“. Bei dieser werden Substanzbibliotheken bestehend aus kleinen chemischen Fragmenten in einem Screening-Verfahren an biologischen Zielstrukturen wie Proteinen oder DNA getestet, um neue Startpunkte für die Entwicklung von Wirkstoffen zu finden.

Bisher waren Halogene, besonders die schwereren Elemente Brom und Iod, in entsprechenden Bibliotheken chemischer Fragmente stark unterrepräsentiert. Die Wissenschaftler aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Tübingen beschreiben nun im „Journal of the American Chemical Society“ (DOI: 10.1021/ja301056a) zum ersten Mal das Design und die Anwendung von mit Halogenen angereicherten Fragment-Bibliotheken, bezeichnet mit dem Akronym „HEFLibs“. Es war ihnen gelungen, mit HEFLibs eine defekte Form des Transkriptionsfaktors p53 in Zellen zu reaktivieren. Dieser nimmt eine zentrale Rolle in der Krebsprävention und -abwehr ein.

p53 sorgt dafür, dass Proteine gebildet werden, die wichtige Vorgänge der Zelle steuern, beispielsweise die Reparatur von DNA oder die Not-Abschaltung der Zelle durch Apoptose – den programmierten Zelltod. Die Schädigung von p53 durch Mutation kann zum Verlust dieser Kontrollfunktionen und somit zur Entwicklung verschiedener Krebsarten führen. Verbindungen, die in der Lage sind, das mutierte p53 zu reaktivieren, könnten deshalb großes Potential für die Tumortherapie besitzen.

Durch Anwendung des neuen HEFLibs-Konzepts konnten nun Verbindungen identifiziert werden, welche die p53 Krebs-Mutante Y220C erkennen, stabilisieren und damit reaktivieren können. Diese Verbindungen – 2-(Aminomethyl)-4-ethynyl-6-iodophenole – stellen somit einen interessanten Startpunkt für die weitere Optimierung dar. „Diese Ergebnisse sind das Resultat einer langjährigen engen Zusammenarbeit mit Dr. Andreas Jörger und Prof. Sir Alan Fersht vom MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge/UK“, berichtet Prof. Böckler.

„Die Idee, Halogenbrücken gezielt durch HEFLibs zu induzieren und dieses Konzept an mutiertem p53 zu erproben, ist vor allem das Verdienst von Dr. Rainer Wilcken, der für seine in Tübingen angefertigte Doktorarbeit mit dem Merckle-Promotionspreis 2011 ausgezeichnet wurde“, so Böckler. „In den Kristallstrukturen der Protein-Ligand-Komplexe der von uns entwickelten Verbindungsklasse zeigt sich die wesentliche Bedeutung der durch Iod vermittelten Halogenbrücke für die molekulare Erkennung. Die Ergebnisse geben Anlass zu der Hoffnung, dass HEFLibs großes Potential für die Anwendung als neue Strategie für die Identifikation von Leitstrukturen haben, bei einer Vielzahl von therapeutisch relevanten Proteinen. Die Editoren von JACS haben deshalb unsere Veröffentlichung als JACS Spotlight ausgewählt.“

Publikation:
Rainer Wilcken, Xiangrui Liu, Markus O. Zimmermann, Trevor J. Rutherford, Alan R. Fersht, Andreas C. Joerger* & Frank M. Boeckler*: „Halogen-Enriched Fragment Libraries as Leads for Drug Rescue of Mutant p53“.  J. Am. Chem. Soc., 2012, 134 (15), pp 6810-6818  (DOI: 10.1021/ja301056a)

Externer Link: www.uni-tuebingen.de