Sisyphos‘ Erbin – Sahara-Spinne rollt auch bergauf

Medieninformation der TU Berlin vom 26.10.2009

Bionik-Professor der TU Berlin macht außergewöhnliche Beobachtung in der Wüste

Wenn Professor Dr. Ingo Rechenberg von seiner alljährlichen Sahara-Tour zurückkehrt, dann hat er meist Interessantes zu berichten. In diesem Sommer hat er einen achtbeinigen „Sisyphos“ beobachtet: Eine ihm bereits bekannte Rad-Spinne trotzte souverän der Schwerkraft. „Wie der Held in der griechischen Mythologie einen Felsbrocken, so bewegte sie ihren massiven Körper rollend den Dünenberg aufwärts. Als die Steigung zu groß wurde, kippte sie nach hinten über und trudelte wieder bergab – um dann, wie Sisyphos, wieder von vorn zu beginnen“, berichtet der Bioniker an der Technischen Universität Berlin.

„Ich war 60 Tage vor Ort und habe in jeder Nacht meine Rad-Spinnen beobachtet. Man findet sie nachts auf ebenen Dünenfeldern. Ich habe 15 bis 20 von ihnen nach und nach gefangen, um sie im ersten Morgenlicht studieren zu können“, sagt Rechenberg. So hat er gemessen, dass sich die Gliederfüßer mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde auf ihren acht Beinen laufend fortbewegen. „Sobald sie jedoch anfangen zu rollen, sind sie doppelt so schnell“, berichtet er. Die Geschwindigkeitssteigerung ergibt sich dadurch, dass nach jeder Körperumdrehung eine 15 bis 20 Zentimeter lange Flugstrecke folgt. Die Rolltechnik setzen die Spinnen immer dann ein, wenn sie vor einer Gefahr flüchten.

„Selbstverständlich habe ich die Spinnen wieder frei gelassen, wenn sie ihre Schuldigkeit getan hatten“, sagt er. Die sensationelle Entdeckung machte Rechenberg zufällig: „Ich baute gerade meine Kamera an einem Hang auf, als die Spinne mir entwischte, indem sie den Hang hinaufrollte!“ Der Wissenschaftler war außer sich: „Ich rief sofort meinem Mitarbeiter Abdulah Regabi El Khyari zu, ob er das auch gesehen hätte“, berichtet Rechenberg. Der hatte. Grund genug zu untersuchen, ob der Zufall vielleicht eine Regel sein könnte. Andere Spinnen derselben Art zeigten das gleiche Verhalten. Bis zu 40 Prozent Steigung können die Spinnen bewältigen – je steiler die Düne, desto langsamer wird allerdings die Vorwärtsbewegung. „Man merkt ihnen dann die Anstrengung an“, sagt der Wissenschaftler.

Bereits im vergangenen Jahr entdeckte Ingo Rechenberg die für ihn noch unbekannte Art. Der Spinnenexperte Dr. Peter Jäger vom Senckenberg-Institut konnte nun aufklären: Es handelt sich um eine Cebrennus villosus, die bereits aus Algerien und Tunesien bekannt ist. Dass sich diese Art allerdings rollend fortbewegt, wurde bislang noch von keinem Biologen beschrieben. Sogenannte Rad-Spinnen sind nur in der südafrikanischen Namib-Wüste bekannt. Aber diese können nur passiv die Düne hinunterkullern. Das ungewöhnliche Verhalten der fast handtellergroßen Sahara-Rad-Spinne faszinierte den Forscher. Deshalb machte er sich auch in diesem Jahr wieder zu zwei bis drei Kilometer weiten Nachtwanderungen in der Wüste Erg Chebbi am Rande der Sahara in Marokko auf.

Mit Erfolg: Seine Filmaufnahmen der Achtbeiner werfen neue Fragen auf. Rechenberg ist ein Sahara-Kenner. Seit 25 Jahren fährt der Ingenieur in die Wüste, weil den Bionik-Experten extreme Lebensbedingungen interessieren. In ungewöhnlicher Umgebung findet der Forscher Lebewesen, die sich an eine extreme Umwelt auf besondere Art und Weise anpassen. Und diese Art der Anpassung lässt häufig kühne Ideen für innovative Produkte oder Anwendungen entstehen. So untersuchte Rechenberg in der Sahara Sandfische und Sandschleichen. Beides sind Echsen, deren Oberflächen so glatt sind, dass sie sich in den Dünen wie Fische im Wasser bewegen können. Wie man den außergewöhnlich geringen Reibungswiderstand der Schuppenhäute auf industrielle Anwendungen übertragen kann, hat den Forscher bereits ausgiebig beschäftigt.

Seit der Entdeckung „seiner“ Spinne, die er „Araneus rota“ nennt, treibt ihn die wissenschaftliche Neugierde in eine neue Richtung. „Im vergangenen Jahr hatte ich die Theorie, dass ausschließlich die vordersten Gliedmaßen für die Rollbewegung verantwortlich sind. Da hatte ich mich gründlich geirrt; die Beinbewegung ist viel, viel raffinierter“, weiß der Professor nach seinen neuesten Beobachtungen. Anhand der mitgebrachten Filmaufnahmen will er nun das Bewegungsmuster der Spinne genau studieren. Und wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann ein Transportvehikel, das – wie „Araneus rota“ – sowohl laufen als auch rollen kann. (apu)

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