Für Muster schwärmen

Presseinformation der LMU München vom 02.09.2010

Ein Modellsystem zum Gruppenverhalten von Nanomaschinen

Für menschliche Betrachter ist die geordnete und scheinbar choreografierte Bewegung von Hunderten oder sogar Tausenden von Fischen, Vögeln oder Insekten faszinierend. Die Entstehung und vielfältigen Bewegungsmuster derartiger Schwärme sind aber noch rätselhaft und werfen grundlegende Fragen zum Verständnis komplexer Systeme auf. Ein Physiker-Team der Technischen Universität München (TUM) und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München hat nun ein vielseitiges biophysikalisches Modellsystem entwickelt, das die Untersuchung dieser Phänomene und ihrer Gesetzmäßigkeiten ermöglicht. Mithilfe der Kombination aus einer experimentellen Plattform und theoretischen Modellen sollen auch komplexe Systeme beschrieben und deren physikalische Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt werden. Über ihre Ergebnisse berichten die Münchener Forscher in der aktuellen Ausgabe des Journals Nature.

„Alles bewegt sich fort, und nichts bleibt“ ist ein Satz, der auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgeführt wird. Das einzelne Individuum muss sich als Teil eines großen Ganzen, etwa eines Schwarms oder einer Menschenmenge, zwangsläufig deren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterordnen: Vogelschwärme bewegen sich auch ohne Dirigent wie choreografiert durch die Luft, und Fischschwärme ändern blitzartig ihre Richtung, wenn ein Hai auftaucht. Doch die Wissenschaft rätselt noch: Gehorchen all diese Systeme denselben Gesetzen? Entsteht komplexes Gruppenverhalten aus individuellen Interaktionen von selbst und zwangsläufig? Ein Forscherteam um Professor Andreas Bausch, Lehrstuhl für Biophysik der TUM, und Professor Erwin Frey, Lehrstuhl für Statistische und Biologische Physik der LMU, ist den Antworten auf der Spur.

Die Münchener Wissenschaftler haben nun ein biophysikalisches Modellsystem entwickelt, das es erlaubt, gezielt Experimente unter kontrollierten Bedingungen und in hoher Präzision durchzuführen. Volker Schaller vom TUM-Lehrstuhl für Biophysik und Erstautor der Studie, verankerte dazu auf einer Oberfläche biologische Motorproteine, die lose darüberliegende Fasern des Muskelproteins Aktin in beliebige Richtungen transportieren können. Die Fasern haben einen Durchmesser von etwa sieben Nanometern, also sieben Millionstel Metern, und eine Länge von etwa zehn Mikrometern, also zehn Tausendstel Millimetern. Die Bewegung der Fasern wurde mit hochauflösender Mikroskopie sichtbar gemacht.

Im Experiment begannen sich die Aktin-Fasern zu bewegen, sobald ATP – der Treibstoff für Motorproteine – zugegeben wurde. Bei niedrigen Konzentrationen der Aktin-Fasern ist die Bewegung noch völlig chaotisch. Erst ab einer Dichte von mehr als fünf Aktin-Fasern pro Quadratmikrometer, begannen sich die Fasern kollektiv in größeren Verbänden zu bewegen – in verblüffender Übereinstimmung zu Vogel- oder Fischschwärmen. „Wir können in diesem System alle relevanten Parameter einstellen und beobachten“, so Schaller. „Damit lassen sich auch die Aussagen verschiedener Theorien zur Selbstorganisation experimentell überprüfen – und zwar auf einer winzigen Längenskala mit ‚Nanomaschinen‘.“

Wie aus dem Nichts bildeten sich im Versuch Strukturen, etwa Wellen, Spiralen oder geordnete Cluster. Manche dieser Strukturen erreichten eine Größe von fast einem Millimeter und blieben bis zu mehreren Minuten stabil, bevor sie sich wieder auflösten. Ausgehend von diesen Beobachtungen entwickelte Frey zusammen mit seinem Doktoranden Christoph Weber theoretische Modelle, um die experimentellen Ergebnisse zu beschreiben. Mit Hilfe dieser Kombination aus erweiterbaren theoretischen Modellen und einer experimentellen Plattform wollen die Physiker nun schwierigere Probleme angehen und deren physikalische Gesetzmäßigkeiten aufdecken.

„Phänomene der Selbstorganisation begleiten uns auf allen Ebenen unseres Lebens,“ sagt Bausch. „Das fängt an bei Verkehrsstaus und der Bewegung von Menschenmassen sowie Schwärmen von Tieren und reicht bis zur Organisation biologischer Prozesse. Wichtige Beispiele sind hier der Aufbau des zellulären Zytoskeletts oder der Proteintransport in der Zelle durch Motorproteine.“ Die zugrundeliegenden Prinzipien – ob nun in ökonomischen, biologischen oder physikalischen Systemen – gehören aber noch zu den großen offenen Fragen der Theoretischen Physik. „Auch für unser Naturverständnis gibt es hier noch viele fundamentale Gesetzmäßigkeiten zu entdecken“, betont Frey. „Prognosen sollten aber nicht vorschnell auf die Dynamik von Menschenmassen übertragen werden – deren Komplexität lässt sich bislang kaum in theoretischen Modellen erfassen.“

Die Forschungsarbeiten werden unterstützt aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, SFB 863), des Exzellenzclusters Nanosystems Initiative Munich (NIM), des TUM Institute for Advanced Study der TUM und dem Bayerischen Elitenetzwerk (CompInt, NanoBioTechnology).

Publikation:
Volker Schaller, Christoph Weber, Christine Semmrich, Erwin Frey und Andreas R. Bausch;
Polar patterns of driven filaments;
Nature, 2. September 2010. S. 73 – 77;
doi:10.1038/nature09312

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