Proteinmenge steuert den Defekt

Presseinformation der LMU München vom 22.01.2016

Mutationen des Gens Peripherin-2 sind eine der häufigsten Ursache für erbliche Netzhautkrankheiten. LMU-Wissenschaftler zeigen, warum die Mutationen sich ganz unterschiedlich auswirken – je nachdem, ob Sehstäbchen oder Sehzapfen betroffen sind.

Hochspezialisierte Sehzellen in der Netzhaut sorgen dafür, dass wir unsere Umgebung scharf und farbig wahrnehmen: Die besonders lichtempfindlichen Stäbchen erlauben das Sehen im Dämmerlicht und in der Nacht. Die Zapfen dagegen sind für das scharfe Sehen bei Tageslicht und für das Erkennen von Farben zuständig. Eine der häufigsten Ursachen genetisch bedingter Netzhauterkrankungen beim Menschen sind Mutationen des Gens Peripherin-2 (PRPH2), das ausschließlich in diesen Fotorezeptoren aktiv ist. „Wir konnten nun erstmals zeigen, dass PRPH2 Mutationen die in den Fotorezeptoren produzierten Proteinmengen beeinflussen – und zwar auf ganz unterschiedliche Weise“, sagt der LMU-Pharmakologe Professor Martin Biel, der mit seinem Team die zellulären Vorgänge untersuchte, die eine Mutation auslöst. Über ihre Ergebnisse berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin PLOS Genetics.

Das Gen Peripherin-2 kodiert für ein gleichnamiges Protein, das essenziell ist für den korrekten Aufbau der lichtempfindlichen Kompartimente der Fotorezeptoren. Weltweit leiden Schätzungen zufolge 100 000 Patienten unter einer allmählichen Degeneration der Fotorezeptoren bis hin zur Blindheit, die durch Mutationen in diesem Gen ausgelöst wird. „Seit Jahrzehnten ist es ein ungelöstes Rätsel, weshalb manche Mutationen zur Degeneration von Sehstäbchen führen, andere dagegen vor allem die Sehzapfen betreffen“, sagt Elvir Becirovic, der Erstautor der Studie.

Schnitte ins Erbgut

Um diesen Effekt näher zu untersuchen, haben die Wissenschaftler mithilfe von speziell modifizierten Viren – sogenannten Adenovirus-assozierten Viren (rAAV) – Mutationen im Peripherin-2-Gen spezifisch nur in den Photorezeptortyp eingeschleust, der durch die jeweilige Genveränderung auch tatsächlich beeinträchtigt wird. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass die Mutationen die Umsetzung der genetischen Information beeinflussen: Beim Ablesen eines Gens entsteht zunächst eine Vorläufer-mRNA, aus der dann durch das sogenannte „alternative Spleißen“ bestimmte Bereiche herausgeschnitten werden. Dadurch entsteht die endgültige mRNA, die als Vorlage für Proteine dient. Über das alternative Spleißen kann die Zelle die molekulare Zusammensetzung, aber auch die Menge des jeweiligen Proteins regulieren.

„Wir haben zunächst gezeigt, dass Sehstäbchen beim Spleißen deutlich effizienter sind und dadurch mehr Peripherin-2-Protein produzieren als die Zapfen. Die meisten Mutationen, die mit einer Degeneration der Stäbchen assoziiert sind, führten in unserer Untersuchung zu einer Reduktion der Proteinmenge in diesem Rezeptortyp, die teilweise durch eine geringere Spleißeffizienz entsteht“, sagt Becirovic. Im Gegensatz dazu führten die meisten Mutationen, die Zapfendefekte hervorrufen, zu einer Erhöhung der Proteinmenge in Sehzapfen. Dieser Effekt beruhte ausschließlich auf der Steigerung der Spleißeffizienz. Damit haben die Wissenschaftler zum ersten Mal nachgewiesen, dass krankheitsassoziierte Mutationen nicht nur durch eine Reduktion, sondern auch durch eine Erhöhung der Spleißeffizienz entstehen können.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass sogar evolutionär, strukturell und funktionell verwandte Zelltypen wie Fotorezeptoren sich in ihrem Spleißverhalten deutlich unterscheiden können, was die differenzierte Wirkung von Mutationen erklären kann“, sagt Becirovic. Die Wissenschaftler vermuten, dass Mutationen in anderen Genen ähnliche Effekte auf das Spleißen und die damit verbundene Proteinproduktion haben könnten.

Möglicher Ansatzpunkt für Therapie

Die Studie ist auch für therapeutische Anwendungen sehr interessant, denn genetische Modifikationen mithilfe von rAAV-Genfähren sind laut Biel eine attraktive Methode, um Gendefekte beim Menschen zu behandeln. „Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass das rAAV-System auch zur Behandlung der genetischen Defekte in den Sehstäbchen und Sehzapfen eingesetzt werden könnte“, sagt Biel, an dessen Lehrstuhl solche Fähren bereits zur Behandlung retinaler Erkrankungen entwickelt wurden. „Da zusätzlich produzierte Proteine in den Sehzapfen vermutlich toxisch wirken, muss allerdings sichergestellt werden, dass es dabei nicht zu einer Überproduktion von Peripherin-2 in diesem Rezeptor kommt.“

Publikation:
PLOS Genetics 2016

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Was das Mäuseauge dem Mäusegehirn erzählt

Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 06.01.2016

Tübinger Neurowissenschaftler zeigen, wie die Netzhaut Informationen ans Gehirn sendet: Bilder werden bereits im Auge ausführlicher interpretiert als bislang angenommen

Bilder werden im Auge wesentlich umfassender verarbeitet und interpretiert als bisher bekannt. Tübinger Wissenschaftler haben in einer Studie die Kanäle untersucht, über die Informationen aus dem Auge ins Gehirn geleitet werden. Dabei identifizierten sie zahlreiche neue Zelltypen und stellten zudem fest, dass die Netzhaut über bis zu 40 verschiedene Kanäle ins Gehirn verfügen dürfte – doppelt so viele wie bislang angenommen. Die Ergebnisse werden im renommierten Fachjournal „Nature“ veröffentlicht. DOI: 10.1038/nature16468

„Was das Froschauge dem Froschgehirn erzählt“ überschrieb 1959 der Kognitionswissenschaftler Jerome Lettvin einen bahnbrechenden Aufsatz. Seine Annahme: Das Gesehene wird nicht erst im Gehirn, sondern bereits im Auge verarbeitet. Lettvin konnte zeigen, dass das Auge nicht nur wie eine Kamera Bilder aufnimmt und ungefiltert ins Gehirn weiterleitet. Vielmehr werden bereits im Auge wichtige Informationen gewonnen, beispielsweise im Falle des Frosches: „Dort ist etwas Kleines, Dunkles, vielleicht eine Fliege“. Seine Thesen waren so revolutionär, dass Lettvin zunächst ausgelacht wurde. Mittlerweile aber gilt sein vielzitierter Aufsatz als Meilenstein, die damals gestellten Fragen beschäftigen die Wissenschaft noch heute.

So auch das Tübinger Forscherteam um Professor Thomas Euler und Professor Matthias Bethge vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen, dem Bernstein Center for Computational Neuroscience und dem Forschungsinstitut für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen: Die Neurowissenschaftler wollten wissen, welche Informationen über die Welt die Retina (Netzhaut) vom Auge ins Gehirn sendet. Dazu untersuchten sie in einer großangelegten Studie über 11.000 einzelne Netzhaut-Zellen in Mäusen. Die bisher größte Studie dieser Art hatte ca. 450 Zellen umfasst.

Durch eine Kombination modernster experimenteller Methoden untersuchten die Forscher sogenannte retinale Ganglienzellen (retinal ganglion cells, RGCs): Sie nutzten Elektroporation, eine Färbetechnik, durch die man ganze Populationen von Nervenzellen unter dem Mikroskop sichtbar machen und dann einzelnen Zellen in Echtzeit „bei der Arbeit“ zusehen kann. Dazu kamen neue Verfahren zur Analyse der großen Datenmengen. Die Wissenschaftler interessierten sich dabei vor allem für die verschiedenen Funktionen der Zellen: Unterschiedliche Ganglienzellen reagieren auf unterschiedliche Eigenschaften der gesehenen Bilder und schicken diese Informationen über getrennte Kanäle ans Gehirn, die jeweils für Kontrast, Farbe, Bewegungsrichtung, die Lage von Kanten und ihrer Orientierung etc. zuständig sind. Aus diesen Informationskanälen baut das Gehirn dann unser Bild von der Welt. Die Wissenschaftler testeten Nervenzellreaktionen auf verschiedene einfache Bilder und bewegte optische Reize.

Das Forscherteam konnte anhand dieser funktionalen Unterscheidung bis zu 40 verschiedene Typen von Ganglienzellen in der Netzhaut zuordnen, die sehr wahrscheinlich ebenso viele Informationskanäle repräsentieren. Bislang war man von maximal 20 Typen ausgegangen. Die Ergebnisse aus dem Mausmodell lassen sich zwar nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen – die Retina ist aber bei allen Säugetieren sehr ähnlich aufgebaut.

Die Vielzahl an Informationskanälen weist darauf hin, dass die Netzhaut die aufgenommenen Lichtsignale nicht nur in Nervenzellsignale umwandelt, sondern bereits wichtige Interpretationsarbeit leistet. Mit ihrer grundlegenden Arbeit sind die Tübinger Wissenschaftler dem Verständnis, wie die Interpretation von Bildern im Gehirn erfolgt, einen Schritt näher gekommen. Da viele Erkrankungen, die den Sehsinn einschränken, nur bestimmte Zelltypen in der Retina oder bestimmte Informationskanäle betreffen, können die Erkenntnisse auch dazu beitragen, gezielte Therapien zu entwickeln. Auch die – gerade in Tübingen – seit einigen Jahren voranschreitende Forschung an prothetischer Implantattechnologie (Retina-Implantat), die eines Tages Blinde sehend machen könnte, kann derartige Beobachtungen nutzen. Bisherige Modelle stimulieren die Netzhaut relativ unspezifisch, mit Hilfe der neuen Erkenntnisse könnten künftige Versionen gezielt visuelle Informationen in die passenden Kanäle einspeisen.

Publikation:
Tom Baden, Philipp Berens, Katrin Franke, Miroslav Román Rosón, Matthias Bethge, Thomas Euler: “The Functional Diversity of Retinal Ganglion Cells in the Mouse.” Nature (im Druck). Januar 2016. DOI: 10.1038/nature16468

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Implantat gibt Gegensteuer

Medienmitteilung der ETH Zürich vom 16.12.2015

Wissenschaftler entwickelten eine neue, komplexere Art von genetischem Schaltkreis. Damit konnten sie im Mausmodell die Schuppenflechte, eine chronische Entzündungskrankheit der Haut, erfolgreich therapieren.

ETH-Professor Martin Fussenegger nennt sie molekulare Prothesen: biologische Zellen mit speziell entwickelten Gen-Schaltkreisen, die sich in einen Organismus implantieren lassen und dort Stoffwechselfunktionen übernehmen, die der Organismus selbst nicht leisten kann. Fussenegger und seinen Mitarbeitenden am Departement Biosysteme der ETH Zürich in Basel ist es nun gelungen, eine solche molekulare Prothese zu entwickeln, die in ihrer Funktion weit komplexer ist als bisherige. Sie ist darauf zugeschnitten, die Schuppenflechte (Psoriasis), eine komplexe und chronische Entzündungskrankheit der Haut, zu therapieren.

Bisher realisierte Gen-Schaltkreise kontrollierten meist nur, ob in ihrer Umgebung ein Stoffwechselmolekül A vorhanden ist. Falls ja, stellten sie als Antwort darauf ein Stoffwechselmolekül X her. Der neue, komplexere Schaltkreis kann gleichzeitig zwei Moleküle A und B aufspüren. Und nur wenn beide vorhanden sind, stellt er die Moleküle X und Y her. «Wir haben mit Zellbauteilen ein sogenanntes logisches Und-Gatter entwickelt, wie wir es aus der Elektronik kennen und ohne dieses kein Computer funktionieren würde», sagt Fussenegger. Einen Schaltkreis mit einem solchen Und-Gatter (englisch: AND gate) haben die Forschenden in Mäuse implantiert. Dieser vermochte im Mausmodell Schübe der Schuppenflechte erfolgreich zu unterdrücken.

Die neue molekulare Prothese nutzt dabei die Sprache, mit der Immunzellen im Körper miteinander kommunizieren: die Sprache der zahlreichen Botenstoffe, welche die Immunzellen sowohl herstellen als auch erkennen können.

Prothese unterstützt das Immunsystem

Während eines Psoriasis-Schubs sind die verschiedenen Zellen des Immunsystems gleich in zweierlei Hinsicht involviert: Einerseits sind sie dafür verantwortlich, dass es zu einer Entzündungsreaktion kommt, indem sie die Produktion verschiedener Botenstoffe erhöhen, darunter jene mit den Bezeichnungen TNF und IL-22. Andererseits produzieren sie zu einem späteren Zeitpunkt eine Reihe von Botenstoffen, welche die Entzündung wieder abklingen lassen. Darunter sind die Botenstoffe IL-4 und IL-10.

Der von den ETH-Forschenden entwickelte Schaltkreis kann die entzündungsfördernden Moleküle TNF und IL-22 erkennen. Sind diese beiden Botenstoffe gleichzeitig vorhanden (und nur dann), produziert er die entzündungshemmenden Moleküle IL-4 und IL-10. «So hilft unsere molekulare Prothese dem Immunsystem, die Entzündungsreaktion zu unterdrücken», erklärt Fussenegger.

Designer-Zellen in poröser Kapsel

Die Wissenschaftler schlossen je 200 Zellen einer menschlichen Zelllinie mit diesem Gen-Schaltkreis in einer winzigen porösen Kapsel aus Algengelatine ein. Jeweils 6000 dieser kleinen Kapseln injizierten die Wissenschaftler in den Bauchraum von Mäusen. Dort bildeten sich natürlicherweise neue Blutgefässe, welche die Kapseln an den Blutkreislauf anschlossen.

Mit einem Medikament lösten die Wissenschaftler bei den Mäusen eine der Schuppenflechte ähnliche Entzündungsreaktion der Haut aus. Dabei verglichen sie Tiere, denen sie zuvor «Designer-Zell-Kapseln» implantierten, mit solchen ohne Kapsel. Nur letztere zeigten Entzündungssymptome. Das Implantat unterdrückte die Entzündungskrankheit erfolgreich.

Schaltkreis als Frühwarnsystem

Heute werden bei Schuppenflechte meistens nur die Symptome – entzündete, juckende und mitunter schuppende Hautpartien – mit einer lokal angewandten Salbe bekämpft. Darüber hinaus gibt es medikamentöse Therapien, die im ganzen Körper wirken.

In der Regel beginnt man mit solchen Therapien, wenn ein Psoriasis-Schub aufflammt. «Daher hinkt man mit den existierenden Therapien den Symptomen praktisch immer hinterher», sagt Fussenegger. Die Gen-Schaltkreis-Implantate eigneten sich hingegen gut zur Vorbeugung. «Der Schaltkreis beginnt schon früh, entzündungshemmende Botenstoffe zu produzieren – schon dann, wenn sich ein Schub auf der Ebene der entzündungsfördernden Botenstoffe abzeichnet und nicht erst, wenn Hautausschläge sichtbar werden.»

Auch für andere Entzündungskrankheiten

Bei den erfolgreichen Experimenten in Mäusen handle es sich um eine Machbarkeitsstudie, sagt Fussenegger. Ob und wann solche Designer-Zellen im Menschen eingesetzt werden können, sei ungewiss. Denkbar sei jedoch, dass solche Designer-Zellen dereinst auch in Psoriasis-Patienten implantiert werden. Weil wachsendes Bindegewebe das Implantat mit der Zeit vom Blutkreislauf abschotten könnte, müsste es ein Arzt wohl alle paar Monate ersetzen.

Auch für andere Krankheiten könnten sich solche biologischen Schaltkreise mit Und-Gatter eignen. Fussenegger: «Chronische Entzündungskrankheiten sind ein gutes Beispiel für Krankheiten, die sich nicht mit der Messung eines einzigen Moleküls diagnostizieren lassen.» Mit einer Designer-Zelle, die das Profil mehrerer Botenstoffe im Blut messe, liessen sich solche Krankheiten jedoch in der Regel diagnostizieren. Und wenn diese Designer-Zelle gleich noch therapeutische Moleküle produziere, dann täten sich künftig vielsprechende Behandlungsmöglichkeiten für eine ganze Reihe von Krankheiten auf.

Literaturhinweis:
Schukur L, Geering B, Charpin-El Hamri G, Fussenegger M: Implantable synthetic cytokine converter cells with AND-gate logic treat experimental psoriasis. Science Translational Medicine 2015, 7: 318ra201, doi: 10.1126/scitranslmed.aac4964

Externer Link: www.ethz.ch

Botschaft blockiert

Presseinformation der LMU München vom 10.12.2015

LMU-Forschern ist es gelungen, die Ansammlung von Monozyten an einer Entzündungsstelle zu stoppen. Dafür haben sie im Labor ein Peptid entwickelt, das einen entscheidenden chemischen Signalweg stört.

Monozyten spielen eine wesentliche Rolle bei der Immunabwehr. Die weißen Blutkörperchen können aber auch zur Gefahr für den eigenen Körper werden, wenn sie sich in großen Mengen an der inneren Gefäßwand ansammeln und dadurch Entzündungen auslösen. Forscher um Professor Oliver Söhnlein vom Institut für Prophylaxe und Epidemiologie der Kreislauferkrankungen (IPEK) der LMU ist es gelungen, die Ansammlung von Monozyten in entzündeten Geweben zu stoppen. Über ihre Ergebnisse berichten sie aktuell in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine.

Verschiedene chemische Signalwege sorgen dafür, dass die Monozyten an der Gefäßwand anheften und schließlich in diese eindringen. Die Forscher um Oliver Söhnlein haben untersucht, in welcher Weise Neutrophile, die häufigsten weißen Blutkörperchen, und Blutplättchen bei der Aktivierung von Monozyten kooperieren. „Beide haben in ihren Zellkörpern Vesikel mit Proteinen, die sie freisetzen können, sobald sie am Gewebe kleben“, sagt Söhnlein. Die Proteine formen zusammen Heteromere, die als Andockstation für die Monozyten fungieren und ihnen überhaupt erst ermöglichen, an der Gefäßinnenwand zu haften.

Fatale Signale

„Diese Heteromere eignen sich als therapeutisches Angriffsziel. Wenn sich ihre Bildung verhindern lässt, fehlt der Signalweg, durch den die Monozyten sonst an die Gefäßinnenwand binden“, sagt Oliver Söhnlein. Um diesen Prozess zu unterbinden, haben die Forscher die Interaktion von Proteinen aus Neutrophilen und Plättchen genauer analysiert. Auf Basis einer Strukturanalyse der von ihnen freigesetzten Proteine, haben sie ein eigenes Molekül entwickelt, das SKY-Peptid. „Es ist HNP1, einem Protein, das von den Neutrophilen freigesetzt wird, strukturell sehr ähnlich“, sagt Söhnlein. Mithilfe des SKY-Peptids lässt sich die Interaktion stören: Das SKY-Peptid bindet an das Protein CCL5, das von den Plättchen freigesetzt wird. Ohne die Interaktion von HNP1 und CCL5 können sich keine Heteromere bilden. Die Monozyten können somit nirgendwo andocken und wandern in der Blutbahn weiter.

„Das Peptid SKY hat das höchstmögliche Potenzial, die Interaktion zwischen CCL5 und HNP1 zu stören“, sagt Söhnlein. Dabei stört SKY nicht die grundsätzliche Funktion der beiden Botenstoffe, sondern verhindert nur die Bildung von Heteromeren. „Die reguläre Immunantwort wird durch SKY also nicht beeinträchtig“, sagt Söhnlein, der inzwischen das SKY-Peptid zum Patent angemeldet hat.

Die IPEK-Forscher haben die Interaktion von Neutrophilen und Plättchen in der aktuellen Studie am Beispiel eines Herzinfarkts untersucht. „Doch dieser grundsätzliche Mechanismus ist immer dann relevant, wenn Neutrophile und Plättchen parallel aktiviert werden. Wir gehen davon aus, dass er sich auf verschiedene Erkrankungen übertragen lässt“, sagt Söhnlein. In ihrer Studie haben die Forscher nur die Interaktion der Signalproteine CCL5 und HNP1 untersucht. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Signalbotenstoffe miteinander interagieren und bestimmte Wirkungen hervorrufen. Unter anderen Bedingungen könnten auch andere Heteromere relevant sein.“ Um einen möglichen therapeutischen Nutzen ihres Ansatzes zu überprüfen, sind daher weitere Untersuchungen notwendig. „Unsere Ergebnisse weisen auf jeden Fall darauf hin, dass die gezielte Störung ausgewählter Signalwege ein therapeutischer Ansatzpunkt sein könnte“, sagt Oliver Söhnlein.

Publikation:
Science Translational Medicine, 2015

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Stammzellen auf Algen schneller züchten

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 01.12.2015

Alginat nennt man das Stützskelett der Algen. Fraunhofer-Wissenschaftler nutzen die gelartige Masse chilenischer Pflanzen als Nährboden für Stammzellen: Porengröße und Elastizität des Alginats können flexibel eingestellt werden. Es transportiert Wirkstoffe und hat bessere optische Eigenschaften als Material aus Kunststoff.

Die Pharmaindustrie benötigt für Medikamententests der Zukunft pluripotente Stammzellen in großen Mengen. Diese Stammzellen haben das Potenzial, sich in beliebige Körperzellen umzuwandeln – zum Beispiel in Zellen der inneren Organe. In Biobanken entstehen gerade viele tausende Stammzelllinien unterschiedlichster Patienten. Mediziner erhalten dort perfekte Modelle der genetischen Krankheiten dieser Patienten. An den Stammzellen können Ärzte und Pharmaunternehmen neue Medikamente besser und schneller als bisher testen.

Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT in Sulzbach haben Algen aus Chile als besonders effiziente Nährquelle für die Vermehrung pluripotenter Stammzellen identifiziert. In den vergangenen Jahren haben sie einen kontrollierten und dokumentierten Herstellungsprozess für Alginat, das Stützgerüst der Algen, entwickelt. Der Prozess reicht von der Ernte der Algen an chilenischen Küsten und im chilenischen Meer über den Import der zum Granulat aufbereiteten und getrockneten Algen bis zur Produktion des Alginats und zur Verwendung in der Kultur pluripotenter Stammzellen am Institut im Saarland. Aktuell validieren britische Pharmafirmen den Prozess in ihren Laboren. »Im nächsten Jahr sind erste konkrete Versuche mit Partnern aus dem europäischen Verband der Pharmaunternehmen, EFPIA, geplant. Ziel ist es zu zeigen, dass wir mit dem Prozess stabil pluripotente Stammzellen produzieren können. Am Institut konnten wir das bereits für viele einzelne Stammzelllinien nachweisen«, sagt Prof. Dr. Heiko Zimmermann, Institutsleiter am IBMT. Den Herstellungsprozess sowie die Technologieplattform haben die Fraunhofer-Wissenschaftler aus Sulzbach und deren Kollegen in Chile und Großbritannien gemeinsam entwickelt.

Alginat zweier chilenischer Algensorten besonders geeignet

Ausgangsmaterial sind zwei Algensorten, die an den Küsten Chiles wachsen: Lessonia trabeculata und Lessonia nigrescens. Das Stützskelett der Algen besteht aus Alginat, das sich besonders gut für die Stammzellkultivierung eignet: Es besteht aus einem stark wasserhaltigen Gel, ist aber zähflüssiger als Honig. Es ist, wenn man es mit Kalzium oder Barium vernetzt, zugleich stabil und flexibel – ähnlich wie Wackelpudding – und dabei durchlässig für Nährstoffe und wichtige Faktoren. »Zellen fühlen sich wie im Körper in elastischen dreidimensionalen Umgebungen besonders wohl. Genau diese Umgebung kann mit Alginat perfekt simuliert werden«, erklärt Prof. Zimmermann. Insbesondere für die regelmäßig kontrahierenden Herzmuskelzellen ist das eine ideale Umgebung. Die Wissenschaftler stellen die Elastizität durch die Mischung der Algenarten flexibel ein und produzieren das Alginat in Form von Kügelchen beliebiger Größe. »Denn unterschiedliche Zellen benötigen unterschiedliche Kulturbedingungen«, erklärt Prof. Zimmermann. »Gleichzeitig bringen wir Wirkstoffe in das Alginat ein und setzen sie kontrolliert frei.« Zum Beispiel Stoffe, die pluripotente Stammzellen in bestimmte Körperzellen umwandeln. »Zukünftig wird das Alginat nicht nur als passiver Nährboden fungieren, sondern auch aktiv das Wachstum der Stammzellen beeinflussen«, sagt Prof. Zimmermann. Ein weiterer Vorteil: Die elastische Biomasse hat keine Eigenfluoreszenz. Das ist für optische Analyseverfahren wichtig. »Die Stammzellen wachsen besser auf unserem Alginat, insbesondere auch in automatisierten Bioreaktoren. Sie lassen sich besser ausdifferenzieren – in gewünschte Körperzellen umwandeln – als auf Kunststoffuntergrund, der heute standardmäßig eingesetzt wird«, fasst Prof. Zimmermann zusammen.

Das Ernten der Algen wird streng kontrolliert: Es gibt spezielle Lizenzen für die chilenischen Fischer; sie ernten nur diejenigen Algen, die sich für die Herstellung des Alginats eignen und nur so viel, dass eine nachhaltige Bewirtschaftung der chilenischen Küste ermöglicht wird. In einem vom IBMT und von Fraunhofer Chile betriebenen Labor an der Universität Coquimbo werden die Algen einzeln geschält, zerkleinert und vollständig getrocknet. Das geschieht innerhalb von 24 Stunden, so dass das Material nicht verunreinigt wird. Das Algengranulat wird dann nach Deutschland importiert: Im Reinraum am IBMT lösen die Wissenschaftler das Alginat heraus. Es liegt dann in flüssiger Form vor und kann mit Hilfe eines starken Luftstrahls zu Kügelchen geformt werden. »In einem Bariumbad werden die Kügelchen stabiler gemacht, denn Barium verbleibt besser in der Algenmasse. Die Kunst ist es, das Material stabil, aber nicht zu hart zu machen«, sagt Prof. Zimmermann.

Die Forscher geben das mit Proteinen beschichtete Alginat in einen Bioreaktor. Dieser stellt die optimale Temperatur und CO2-Umgebung bereit und rührt Nährstoffe sowie Zellen kontinuierlich um. Jedes einzelne, etwa 200 Mikrometer große Alginatkügelchen übernimmt dabei die Rolle einer Petrischale. Die Stammzellen bewachsen das Alginat in drei bis sieben Tagen in den Behältern und vermehren sich dabei. »Die Alginatmengen in den Reaktoren lassen sich leicht erhöhen. Die Folge: Pluripotente Stammzellen wachsen auf weniger Raum und in größerer Zahl«, sagt Prof. Zimmermann.

Externer Link: www.fraunhofer.de