Wie Blutgefässe veröden: Zellen verschmelzen mit sich selbst

Medienmitteilung der Universität Basel vom 17.04.2015

Zellen im Blutgefässsystem von Wirbeltieren können mit sich selbst verschmelzen. Diesen Prozess, der auftritt, wenn ein Blutgefäss nicht mehr benötigt und zurückgebildet wird, hat das Forschungsteam von Prof. Markus Affolter am Biozentrum der Universität Basel erstmals auf zellulärer Ebene beschrieben. Die Ergebnisse der Studie sind im Fachjournal «PLoS Biology» veröffentlicht.

Blutgefässe bilden das Versorgungsnetzwerk des menschlichen Organismus. Sie versorgen ihn mit Sauerstoff und Nährstoffen bis in den letzten Winkel jedes Körperteils. Forschungsarbeiten über das Blutgefässsystem konzentrierten sich bislang in erster Linie auf die Bildung eines solchen Netzwerkes. Die Forschungsgruppe von Prof. Markus Affolter am Biozentrum der Universität Basel hat nun die Rückbildung nicht mehr benötigter Blutgefässe beim Zebrafisch genauer untersucht und entdeckt, dass die Zellen fähig sind, ihre Membranränder mit sich selbst verschmelzen zu lassen. Dass Gefässzellen von Wirbeltieren diese Eigenschaft haben, war bislang unbekannt.

«Self-Fusion» erstmals im Wirbeltier beobachtet

Die Bildung von Blutgefässen folgt einem komplizierten Architekturplan. «Der Plan für die Rückbildung ist auf den ersten Blick gleich, muss auf molekularer Ebene jedoch unterschiedlich sein», sagt Markus Affolter. Bei der Verödung eines Blutgefässes wandern die meisten Zellen in die benachbarten, funktionellen Gefässe. Die letzte Zelle, die im sich zurückbildenden Gefäss bleibt, fusioniert mit sich selbst und schliesst das Gefäss ab. Bei dem als «Self-Fusion» bezeichneten Prozess breitet sich eine Zelle um das gesamte  Gefäss aus. Die dabei aufeinandertreffenden  Membranränder dieser Zelle verschmelzen mit sich selbst und verschliessen so die Öffnung. So wird sichergestellt, dass bei der Verödung eines Gefässes kein Loch zurückbleibt, aus dem Blut austreten kann. Es ist das erste Mal, dass das Verschmelzen von Zellen mit sich selbst bei Wirbeltieren, zu denen auch der Mensch zählt, beobachtet werden konnte. «Bisher kannte man ein solches Verhalten von Zellen nur bei einfacheren Organismen wie dem Fadenwurm», erklärt Markus Affolter.

Hohe Plastizität durch «Self-Fusion»

Während der Ausbildung des Blutgefässnetzwerkes bilden sich immer wieder auch Gefässe, die nur vorrübergehend benötigt werden. Wie bei einem stillgelegten Flussarm eines weit verzweigten Gewässernetzes, durchfliesst diese Gefässe kein frisches Blut mehr und der Organismus beginnt mit dem Abbau dieses Seitenarms. Auf diese Weise reguliert sich das Blutgefässsystem von allein, optimiert seinen Blutfluss, indem überschüssige Gefässe, in denen sich der Blutdurchfluss und damit der Blutdruck verringern, zurückgebildet und deren Zellen recycelt werden. «Dieser neu gefundene Prozess ist für das zelluläre Verständnis vom Auf- und Abbau von Blutgefässen wichtig, da sich damit einmal mehr die unglaublich grosse Plastizität und Wandelbarkeit des Blutgefässsystems erklären lässt», so Anna Lenard, Erstautorin der Publikation. Die Studie wurde am Zebrafisch durchgeführt, da sich in dem fast durchsichtigen Fisch die Blutgefässentwicklung mittels moderner Mikroskopiertechniken am lebenden Tier beobachten lässt.

Bedeutung von «Self-Fusion» bei Krebs

«Wie die Zelle beim aufeinandertreffenden der Membranränder sich selbst erkennt, und dabei nur mit sich und nicht mit anderen, benachbarten Blutgefässzellen fusioniert, weiss man bislang jedoch noch nicht», so Markus Affolter. Schon lange liegt der Verdacht nahe, dass jede einzelne Zelle eines Organismus einen eigenen Code hat. «Dieser Prozess könnte diese Theorie teilweise bestätigen», meint Affolter. Mit seinem Team möchte er nun untersuchen, was beim «Self-Fusion»-Prozess in der Zelle genau passiert. Da Tumore für ihr Wachstum ein gut ausgebildetes Blutgefässsytem benötigen, könnte ein besseres Verständnis über die Bildung und Rückbildung des Netzwerkes Möglichkeiten eröffnen, wie sich ein solches System manipulieren liesse.

Originalartikel:
Anna Lenard, Stephan Daetwyler, Charles Betz, Elin Ellertsdottir, Heinz-Georg Belting, Jan Huisken, Markus Affolter:
Endothelial Cell Self-fusion during Vascular Pruning.
PLoS Biology, published online 17 April 2015 | DOI: 10.1371/journal.pbio.1002126

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Entwicklungshilfe für das Sehen

Presseinformation der LMU München vom 02.04.2015

LMU-Wissenschaftler haben einen neuen epigenetischen Mechanismus entdeckt, mit dem die komplexe Entwicklung und Verschaltung von Nervenzellen der Netzhaut gesteuert wird.

Sehen ist ein komplexer Prozess, an dem ein Netzwerk verschiedener Nervenzellen in der Netzhaut beteiligt ist. Dieses Netzwerk entwickelt sich bei Säugetieren im Wesentlichen innerhalb einer Woche nach Öffnung der Augen, indem unreife neuronale Vorläuferzellen in reife Nervenzellen differenzieren und sich miteinander vernetzen. Die tiefgreifenden morphologischen und funktionalen Änderungen dieses Reifeprozesses erfordern eine sehr präzise Steuerung, wann welches Gen aktiv wird. LMU-Wissenschaftler um PD Dr. Stylianos Michalakis und Professor Thomas Carell deckten nun in einer Kooperation im Rahmen des Exzellenzclusters CIPSM (Center for Integrated Protein Science Munich) einen bisher unbekannten Mechanismus auf, mit dem die Entwicklung der Netzhaut gesteuert wird.

Jede Zelle enthält die kompletten Erbanlagen eines Organismus – welche Gene konkret zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiviert und abgelesen werden, legen erst chemische Modifikationen der DNA fest. Diese epigenetischen Prozesse spielen auch bei der Reifung des neuronalen Netzwerks in der Netzhaut eine wesentliche Rolle. Ein wichtiger Mechanismus der epigenetischen Genregulation ist die chemische Veränderung der DNA, indem Methylgruppen an bestimmte DNA-Bausteine angehängt werden. Diese Methylierung markiert die entsprechenden Gene gleichsam für die Zellmaschinerie: Sie sind in der Regel deaktiviert und werden nicht abgelesen. Erst seit 2009 ist bekannt, dass spezielle, sogenannte Tet-Enzyme die methylierte Form des DNA-Bausteins Cytosin sogar gezielt noch für weitere Funktionen umbauen kann. Bisher hatte man gedacht, dieser nur noch leicht veränderte DNA-Baustein mit dem Kürzel 5hmC sei ein reines Intermediat bei der aktiven DNA-Demethylierung. „Seit man weiß, dass 5hmC gezielt produziert werden kann, wird vermutet, dass 5hmC für das An- und Abschalten von Genen eine wichtige Rolle spielt“, sagt Michalakis. „In den reifen Nervenzellen der Netzhaut jedenfalls findet man sehr hohe 5hmC-Level. Wir gehen deshalb davon aus, dass die Produktion von 5hmC durch Tet-Enzyme bei der Entwicklung des neuronalen Netzwerks eine wichtige Rolle spielt. Wie dies geschieht, war bisher aber völlig unklar“.

Die LMU-Wissenschaftler konnten nun zeigen, dass Tet3 mit einem spezifischen Molekül interagiert, dem Transkriptionsfaktor REST, und so stillgelegte Gene tatsächlich wieder aktiviert – eben indem es aus methylierten Bausteinen 5hmC macht. Tet3 sorgt aber auch noch auf andere Weise dafür, dass die Zellmaschinerie an bestimmten Genen aktiv werden kann. In Zusammenarbeit mit einem weiteren Enzym verteilt es auch neue Methyl-Markierungen: Dadurch werden ursprünglich dicht gepackte inaktive DNA-Bereiche gelockert, bestimmte Gene sind damit besser zugänglich und können abgelesen werden.

Als nächsten Schritt wollen die Wissenschaftler aufklären, wie und unter welchen Umständen der neue Mechanismus aktiviert wird. „Außerdem interessiert uns, ob es Erkrankungen gibt, bei denen dieser Mechanismus dereguliert ist. Falls dem so ist, könnten sich aus unseren Erkenntnissen möglicherweise auch therapeutische Anwendungen ergeben“, sagt Michalakis. (göd)

Publikation:
Cell Reports 2015

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Mit Blaulicht gegen Männersorgen

Medienmitteilung der ETH Zürich vom 20.03.2015

Männerproblem ernst genommen: ETH-Wissenschaftler entwickeln eine Biotech-Lösung gegen Erektionsstörungen. Diese besteht aus einem Genkonstrukt und blauem Licht.

Unter Männern sind Erektionsstörungen ein Tabuthema. Keiner spricht gerne darüber. Fakt ist: Mit zunehmenden Alter leiden immer mehr Männer unter der sogenannten erektilen Dysfunktion. Ab dem 30. Lebensjahr nimmt die Zahl derer, die keine oder unvollständige Erektionen haben, stetig zu. Bei den über 60-jährigen sind bereits über die Hälfte aller Männer von Erektionsstörungen betroffen.

Als Hauptursachen für erektile Dysfunktion gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Hormonstörungen, Nervenerkrankungen und Nebenwirkungen von Medikamenten. Aber auch eine Querschnittlähmung führt dazu, dass Patienten keine Erektionen mehr haben.

Manch einer greift daher zur «blauen Pille», um die erektile Dysfunktion zu beheben. Doch Viagra hilft nur, die Erektion zu verlängern, nicht aber, diese auszulösen. Damit «er» steht, haben Forscher um Martin Fussenegger, Professor für Biotechnologie und Bioingenieurwissenschaften am Departement Biosysteme (D-BSSE) in Basel, nun eine neuartige biotechnische Lösung entwickelt: eine Gentherapie, die zuverlässig Erektionen auslöst.

Erektion ohne sexuelle Stimulation

Dabei wird ein Genkonstrukt in den Schwellkörper des Penis gespritzt. Dieses Konstrukt reagiert auf blaues Licht. Sobald es diesem ausgesetzt wird, wird ein Vorläufermolekül (Guanosintriphosphat (GTP)) in den Botenstoff zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP) umgewandelt. Dieser kommt auch natürlicherweise in zahlreichen Organen des Menschen vor. Er sorgt dafür, dass sich spannungsabhängige Kalziumkanäle schliessen. Dadurch sinkt in den Zellen der Kalziumpegel, die Muskelzellen erschlaffen und der Blutfluss in den Schwellkörper nimmt zu. Der Penis wird steif. Danach baut ein Enzym cGMP langsam ab, sodass die Erektion mit der Zeit abklingt.

Dank dem Genkonstrukt wird die Produktion von cGMP nicht durch sexuelle Erregung stimuliert, sondern direkt durch die Bestrahlung des Schwellkörpers mit blauem Licht. «Dadurch umgehen wir die gewohnte sexuelle Stimulation, die eine ganze Kaskade von Signalen im Körper auslöst, und schliesslich zur Erektion führt», sagt Fussenegger. Bei erektiler Dysfunktion kommt es bei normaler sexueller Stimulierung nicht zu einer Erektion.

Tiertests erfolgreich

Getestet haben die Forscher ihre neue Entwicklung an Rattenmännchen, denen das Genkonstrukt in den Schwellkörper injiziert wurde. Mit gutem Erfolg. Das blaue Licht wirkte in den meisten Fällen wie ein Schalter, mit dem sich die Erektion der Ratten «anknipsen» liess. Bei einigen Tieren führte die Stimulation bis zur Ejakulation.

«Das System der Erektion ist bei allen Säugetieren sehr ähnlich», sagt Martin Fussenegger. Er ist deshalb davon überzeugt, dass das Genkonstrukt auch bei Menschen funktionieren wird. Offenbar sei dieses System sehr früh in der Stammesgeschichte entstanden und habe sich erhalten. «Auch Viagra funktioniert bei Ratten. Es verlängert wie beim Menschen die Intensität der Erektion»

Grosses Bedürfnis der Betroffenen

Nebenwirkungen dürfte diese Art von Gentherapie kaum haben, schätzt der ETH-Professor. «Das Injizieren des Genkonstrukts sollte kein Hemmnis für potenzielle Anwender sein, da bereits heute Injektionen in den Schwellkörper zur Standardtherapie bei erektiler Dysfunktion gehören», so Fussenegger. Der Schwellkörper sei ziemlich schmerzunempfindlich; zudem sei er vom normalen Blutkreislauf weitgehend abgekoppelt. Die Gefahr, dass das Genkonstrukt an andere Stellen im Körper gelangt, ist daher sehr gering. Überdies wird cGMP relativ rasch wieder abgebaut. Mit Viagra liesse sich zudem die Erektion verlängern, sodass eine allfällige Gentherapie mit diesem Medikament ergänzt werden könnte.

Eine Erektion künstlich auszulösen entspricht laut Fussenegger einem grossen Bedürfnis der Patienten, die an erektiler Dysfunktion leiden. «Dies haben mir verschiedene Ärzte bestätigt», sagt der ETH-Professor. Auch dürften nicht alle Betroffenen Viagra schlucken, um sexuell aktiv zu werden, zum Beispiel bei bekannter Herzschwäche.

An diesem Genkonstrukt haben die Basler ETH-Forscher vier Jahre lang gearbeitet. Vorderhand liegt es als Prototyp vor. Versuche an Menschen wurden bisher nicht unternommen. Fussenegger rechnet jedoch damit, dass sich das Prinzip dieses Genkonstrukts auch beim Menschen durchsetzen wird, da das System sehr einfach und kostengünstig in der Anwendung ist. «Bevor es zur Anwendung kommt, braucht es auf jeden Fall klinische Tests, die sehr aufwändig sind. Wir suchen aktiv nach Industriepartnern für die klinische Umsetzung unserer Technologie.»

Publikation:
Kim T, Folcher M, Douad-El Baba M, Fussenegger M. A synthetic erectile optogenetic stimulator (EROS) enabling blue-light-inducible penile erection. Angew. Chem. Int. Ed. Engl. Published online 19th March 2015. DOI: 10.1002/anie.201412204

Externer Link: www.ethz.ch

Süße Scharfmacher

Presseinformation der LMU München vom 17.02.2015

LMU-Wissenschaftler haben einen neuen Mechanismus entdeckt, durch den pathogene Bakterien ihre Wirkung entfalten: Das Anheften einer zusätzlichen Zuckergruppe an den Translationsfaktor EF-P aktiviert die Produktion krankmachender Proteine.

Der Translationsfaktor EF-P spielt bei der Regulation der Proteinproduktion eine wichtige Rolle: Wird die Proteinsynthese in den Ribosomen durch bestimmte Signale gestoppt, kann erst EF-P die zelluläre Proteinfabrik wieder anwerfen. Studien an einer Reihe pathogener Bakterien haben gezeigt, dass dieser Vorgang etwa für die Produktion krankmachender Proteine wichtig ist – fehlt den Bakterien EF-P, sind sie deutlich weniger virulent. Allerdings kann EF-P die Proteinsynthese nur frei schalten, wenn es zuvor chemisch modifiziert wurde. „Wir haben nun einen völlig neuen Mechanismus für diese EF-P-Modifikation gefunden“, sagt die LMU-Mikrobiologin Kirsten Jung.

Zuckerzusatz aktiviert

Jungs Team konnte zeigen, dass EF-P aktiviert wird, wenn an einen bestimmten EF-P-Baustein – die Aminosäure Arginin – ein zusätzliches Zuckermolekül, eine sogenannte Rhamnose, angedockt wird. Dieser Vorgang wird als Arginin-Rhamnosylierung bezeichnet. „So weit wir wissen sind wir die Ersten, die eine derartige Modifikation bei Bakterien nachweisen konnten“, sagt Jürgen Lassak, der Erstautor der Studie. EF-P kommt nicht nur in Bakterien vor, sondern auch Archaeen und Zellen höherer Organismen besitzen ein EF-P-Pendant. In einer früheren Arbeit deckte Jung gemeinsam mit Daniel Wilson (Genzentrum), mit dem die Mikrobiologin im Rahmen des Exzellenzclusters CIPSM zusammenarbeitet und der auch an der neuen Studie beteiligt ist, die Funktionsweise von EF-P im Darmbakterium Escherichia coli auf. „Allerdings wird E. coli EF-P auf eine andere Weise modifiziert, und die dafür notwendigen Enzyme besitzen nur 25 Prozent aller Bakterien. Mit unserer neuen Studie konnten wir die Bandbreite an Bakterien, für die die Art und Weise der EF-P-Modifikation bekannt ist, deutlich erweitern“, erklärt Jung.

Angriffspunkt für Antibiotika

Der Fund bietet möglicherweise einen Angriffspunkt für neuartige Antibiotika, die gerade vor dem Hintergrund der steigenden Zahl multiresistenter Keime dringend benötigt werden. „Die Arginin-Rhamnosylierung kommt auch bei klinisch relevanten Bakterien wie etwa Pseudomonas aeruginosa und Neisseria vor, häufig mehrfach resistenten Krankenhauskeimen“, sagt Lassak. „Wenn wir einen Weg finden, diesen Mechanismus gezielt zu hemmen, könnte dies die Entwicklung neuer Wirkstoffe deutlich voranbringen“. Dieses Ziel wollen die Wissenschaftler weiter verfolgen und zusätzlich untersuchen, ob auch andere Proteine als EF-P mithilfe der Arginin-Rhamnosylierung modifiziert werden. „Möglicherweise könnte man diesen Mechanismus auch im Rahmen der synthetischen Biologie nutzen, um die Eigenschaften und Funktionen von Proteinen zu modifizieren“, blickt Jung in die Zukunft. (göd)

Publikation:
Nature Chemical Biology 2015

Externer Link: www.uni-muenchen.de

Künstlicher Mini-Organismus statt Tierversuche

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 02.02.2015

Tierversuche sind in der medizinischen Forschung bislang ein notwendiges Übel. Fraunhofer-Forscher haben eine viel versprechende Alternative entwickelt: In einem Chip bauen sie einen Miniorganismus auf. Damit lassen sich die komplexen Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper realitätsnah analysieren.

Niemand möchte auf die Segnungen moderner Medizin verzichten, die vielen Erkrankungen ihren Schrecken genommen hat. Die Kehrseite der Medaille: Damit wirksame und sichere Medikamente zur Verfügung stehen, sind Versuche an Tieren in Forschungslaboren unumgänglich. Weltweit arbeiten Forscher an Alternativen zu Tierexperimenten. Doch Ersatz zu finden, ist schwierig. Denn um die Wirkung einer Substanz zu verstehen, genügt es nicht, die Stoffe an einzelnen Gewebeproben oder Zellen zu testen. »Die meisten Medikamente wirken systemisch, also auf den gesamten Organismus. Dabei entstehen oftmals erst durch Stoffwechselvorgänge toxische Substanzen, die wiederum nur bestimmte Organe schädigen«, erklärt Dr. Frank Sonntag vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff und Strahltechnik IWS.

Chip simuliert menschlichen Blutkreislauf

Forscher des Dresdener Instituts haben gemeinsam mit dem Institut für Biotechnologie der TU Berlin eine neuartige Lösung entwickelt, die Tierversuche in der medizinischen Forschung oder in der Kosmetikindustrie überflüssig machen könnte: Einen Multiorgan-Chip, der die komplexen Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper verblüffend genau nachstellt. »Unser System ist ein Miniorganismus im Maßstab 1:100 000 zum Menschen«, so Sonntag. In dem Chip lassen sich an mehreren Positionen menschliche Zellen aus verschiedenen Organen aufbringen. Die Zellen haben die Forscher aus Blutspenden gewonnen, die für Forschungszwecke zur Verfügung stehen. Diese »Mini-Organe« sind durch winzige Kanäle miteinander verbunden. »Damit simulieren wir den menschlichen Blutkreislauf«, erklärt Sonntag. Eine Mikropumpe befördert – ähnlich wie das menschliche Herz – kontinuierlich flüssiges Zellkulturmedium durch feine Mikrokanäle. Den genauen Aufbau des Chips, also die Anzahl der Mini-Organe und die Verbindung mit den Mikrokanälen, können die IWS-Forscher spezifisch an unterschiedliche Fragestellungen und Anwendungen anpassen. Mit dem Chip lassen sich sowohl Wirkstoffe von neuen Medikamenten testen als auch Kosmetika auf ihre Hautverträglichkeit untersuchen.

Die Idee, verschiedene Zellproben mit Fluidkanälen zu verbinden, gibt es schon länger. Das neue System hat jedoch gegenüber bisherigen Ansätzen zwei entscheidende Vorteile: Dank der Expertise der IWS-Ingenieure ist das Mikrofluidiksystem extrem miniaturisiert. Die Pumpe ist in der Lage, winzigste Fördermengen von unter 0,5 Mikroliter pro Sekunde (µl/s) durch die Kanäle zu schleusen. »Dadurch ist das Verhältnis zwischen Zellprobe und flüssigem Medium realitätsgetreu«, erläutert Sonntag. Stimmt dieses Verhältnis nicht, führt das zu ungenauen Ergebnissen. Zweitens sorgt das Mikrofluidiksystem für eine Strömung – wie das menschliche Blut fließt das Medium kontinuierlich durch den gesamten Kreislauf auf dem Chip. Das ist wichtig, da manche Zelltypen sich nur dann »authentisch« verhalten, wenn sie durch eine Strömung angeregt werden.

Um die Wirkung einer Substanz zu testen, bestücken die Wissenschaftler zunächst den Chip mit verschiedenen Zellproben. Der zu testende Wirkstoff wird dann über das Medium der Zellprobe desjenigen Organs zugeführt, an dem der Stoff im menschlichen Körper in den Blutkreislauf eintreten würde. Das sind zum Beispiel Zellen aus der Darmwand. Auf dem Chip laufen dann die gleichen Stoffwechselreaktionen wie im menschlichen Organismus ab. »Wir verwenden Zellproben unterschiedlicher Geschlechter und Ethnien. Variationen von Körpergröße und -Gewicht können wir im Maßstab von 1:100 000 beliebig nachstellen«, so Sonntag. Die Forscher sehen genau, welche Stoffwechselprodukte sich in bestimmten Zellproben bilden und ob und welche Auswirkungen dies auf andere Zellen hat. Die Ergebnisse sind letztlich sogar aussagekräftiger als Tierexperimente: Denn die Wirkungen auf den Körper einer Maus oder Ratte lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen.

Bei einigen Unternehmen, etwa in der Kosmetikindustrie, ist der künstliche Organismus bereits im Einsatz. Neben der Wirkstoffforschung gibt es aber noch weiteres Anwendungspotenzial: »Man weiß heute, dass bestimmte Nierenzellen, so genannte Endothelzellen, bei fast allen Nierenerkrankungen eine Schlüsselrolle spielen. Bisher gab es bei In-vitro-Tests das Problem, dass Endothelzellen nur unter Strömung funktionieren. Hier könnte unser Multiorgan-Chip eine Testumgebung bieten, in der sich beobachten lässt, wie sich Zellen nach einer Schädigung regenerieren«, so Sonntag.

Als Alternative zu Tierversuchen wurde der künstliche Mini-Organismus kürzlich mit dem Tierschutz-Forschungspreis 2014 ausgezeichnet.

Externer Link: www.fraunhofer.de