Kasseler Physiker entwickeln neue Methode zur Erkennung chiraler Moleküle

Pressemitteilung der Universität Kassel vom 29.02.2012

Physikern der Uni Kassel ist es erstmals mit Hilfe von Laserpulsen gelungen, chirale Moleküle mit hoher Empfindlichkeit nachzuweisen. Die neue Technik besitzt ein erhebliches Anwendungspotenzial in der Chemie- und Pharmaforschung.

Forscher des Fachgebiets Experimentalphysik III – Femtosekundenspektroskopie und ultraschnelle Laserkontrolle – unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Baumert und Prof. Dr. Matthias Wollenhaupt konnten in einem nur tischgroßen Laserexperiment Effekte im Bereich von zehn Prozent für Moleküle mit unterschiedlicher Chiralität demonstrieren. Die durchgeführten Experimente waren derart empfindlich, dass bereits an hochverdünnten Molekülen eindeutige Messsignale beobachtet werden konnten. Da diese Signale mit Hilfe von Laserpulsen der Dauer einiger Billardstelsekunden aufgenommen wurden, ist diese Messung im Prinzip auch ultraschnell. Ähnliche Empfindlichkeiten konnten bislang nur mittels Synchrotronstrahlung an Großforschungsanlagen erzielt werden.

Die linke Hand von der rechten zu unterscheiden ist ein Kinderspiel. Linkshändige Moleküle von rechtshändigen zu unterscheiden ist dagegen eine wissenschaftliche Herausforderung, die umso größer wird, je weniger Moleküle zur Verfügung stehen. Dabei ist Chiralität („Händigkeit“) von zentraler Bedeutung in der Natur. Denn wie Moleküle reagieren, wie sie riechen, schmecken oder wirken, hängt nicht nur von ihrer chemischen Zusammensetzung, sondern häufig auch von ihrer räumlichen Anordnung ab.

Während natürlich vorkommende Moleküle meist nur in einer – links- oder rechtshändigen – Variante bekannt sind, treten bei synthetisch erzeugten Molekülen des gleichen Stoffs oft zwei spiegelbildlich ausgerichtete Varianten auf. Diese beiden Molekülvarianten („Enantiomere“) haben oft sehr unterschiedliche Eigenschaften, was vor allem bei Medikamenten schwer wiegende Konsequenzen haben kann. Während das eine Enantiomer heilend wirkt, kann das andere unwirksam oder für den Menschen sogar schädlich sein. Bei Medikamenten, die auf chiralen Molekülen basieren, hat die chemische Analytik daher eine enorm hohe Bedeutung für die Sicherheit und zuverlässige Wirkungsweise.

Mit Hilfe von energiereichen Lichtstrahlen, die nur in Großforschungsanlagen zur Verfügung stehen, gelingt eine derartige Unterscheidung an geringsten Mengen unregelmäßig ausgerichteter Moleküle in der Gasphase erst seit wenigen Jahren. Als Unterscheidungsmerkmal werden die durch die Lichtstrahlen ausgelösten Elektronen herangezogen. Für eine bestimmte Zirkularität des Lichts und eine bestimmte Chiralität des Moleküls verlassen die Elektronen das Molekül beispielsweise in Richtung des Lichtstrahls. Trifft der Lichtstrahl auf Moleküle mit abweichender Chiralität, so dreht sich die Richtung der Elektronen um. Sie fliegen nun überwiegend entgegen der Richtung des Lichtstrahls.

Ein mechanisches Modell kann diesen Sachverhalt veranschaulichen: Versetzt man die Mutter auf einer Schraube rechtsherum in Drehung, so wird sich die Mutter immer in die gleiche Richtung bewegen, egal ob die Schraubenspitze auf den Beobachter zu- oder von ihm weg zeigt. In diesem Beispiel entspricht die Mutter dem Elektron, die Schraube dem Molekül mit einer bestimmten Chiralität und die Rechtsdrehung der Zirkularität des Lichts. Die Richtung der Schraube stellt zwei Extremfälle der unregelmäßig ausgerichteten Moleküle dar. Dieser Vergleich stammt von dem englischen Forscher Ivan Powis, der solche Untersuchungen an Großforschungsanlagen durchgeführt hat.

Für eine Routineanalytik stehen Großforschungsanlagen allerdings nicht zur Verfügung. Hier setzen nun die Arbeiten von Christian Lux, Matthias Wollenhaupt, Tom Bolze, Qingqing Liang, Jens Köhler, Christian Sarpe und Thomas Baumert ein. Das Team setzte ihre energiearmen – aber dafür intensiven – Laserpulse aus dem Labor ein. Im Unterschied zu den Experimenten an einer Großforschungsanlage werden jetzt mehrere Photonen zum Auslösen der Elektronen verwendet. Die Richtungsverteilung der ausgelösten Elektronen wird dadurch weiter verfeinert. Aufgrund der Handlichkeit des Laboraufbaus und wegen der beachtlichen Größe der beobachteten Effekte eröffnet dieser Ansatz einen wichtigen Zugang zu einer neuartigen Analytik. Weil die Laserpulse im Labor zudem auch noch auf Zeitskalen der Bewegung der Elektronen und Kerne der Moleküle maßgeschneidert werden können, erhoffen sich die Forscher auch neue grundlegende Erkenntnisse über die Wechselwirkung chiraler Moleküle in Lichtfeldern.

Die Arbeiten der Kassler Forscher werden in der 20. Ausgabe 2012 der international renommierten Zeitschrift Angewandte Chemie im Druck erscheinen und wurden am 20. Februar 2012 online gestellt (DOI: 10.1002/anie.201109035). Die Gutachter der Zeitschrift zeichneten den Beitrag mit dem „VIP“ Status (VIP = very important paper) aus.

Externer Link: www.uni-kassel.de

Quantenphysik macht sicheres Cloud Computing möglich

Pressemeldung der Universität Wien vom 19.01.2012

Quantencomputer mit Quantenkryptographie vereinigen ForscherInnen des Vienna Center for Quantum Science and Technology (VCQ) an der Universität Wien und des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie zeigen in der aktuellen Ausgabe von „Science“, dass Quanteneffekte absolut sicheres Cloud Computing ermöglichen. In einem Experiment gelang es, einen Quantencomputer so zu konstruieren, dass alle Ergebnisse der Daten und Rechnungen dem Computer selbst verborgen blieben.

Quantencomputer haben gegenüber klassischen Computern einen bedeutenden Vorteil: schnellere Rechnungen, die auf Quanteneffekten beruhen. Aufgrund Ihrer Komplexität existieren sie bisher nur als Grundlagenexperimente wie im Labor der Fakultät für Physik der Universität Wien. Daher ist es naheliegend, dass diese Technik zukünftig zunächst nur in wenigen spezialisierten Rechenzentren zur Verfügung stehen wird – ähnlich wie bei heutigen Großrechnern.

Auslagerung in die „Rechnerwolke“

Diese Strategie folgt dem aktuellen Trend des Cloud Computing, bei dem IT-Leistungen werden in die „Rechnerwolke“ ausgelagert werden. Nutzer könnten von außerhalb Anfragen an einen Quantencomputer stellen und Quantenrechnungen durchführen. Das neue Cloud Computing hat gegenüber derzeitigen Lösungen einen entscheidenden Vorteil, der nur durch Quanteneffekte erreicht werden kann: Es ist absolut sicher.

Code oder Telefonbuch?

Wiener ForscherInnen haben in Kooperation mit internationalen Forschungsinstituten erstmals diese absolute Sicherheit der Daten in einem Grundlagenexperiment realisiert. Dabei führt ein Quantencomputer Rechnungen durch, kann aber selbst nicht herausfinden, welche es sind. „Der Quantenrechner kann beispielsweise nicht unterscheiden, ob er gerade einen Code entschlüsselt, oder einen Eintrag in einem Telefonbuch sucht“, erklärt Stefanie Barz, Hauptautorin der soeben in „Science“ veröffentlichten Studie.

„Blind“ errechnet

Dies könnte in Zukunft folgendermaßen funktionieren: Ein Nutzer präpariert Qubits – die kleinsten Einheiten des Quantencomputers – in einem nur ihm bekannten Zustand und sendet diese zum Quantencomputer. Dieser verschränkt die Qubits nach einem bestimmten Schema. Die Quantenrechnungen werden nun durch Messungen realisiert. Dazu schickt der Nutzer verschiedene Messanweisungen an den Quantencomputer.

Diese Anweisungen sind an den Zustand der Qubits angepasst und ergeben nur einen Sinn, wenn auch der Zustand der Qubits bekannt ist. Da der Quantencomputer diesen jedoch nicht kennt, sind für ihn die Rechnungen eine unzusammenhängende Abfolge an Operationen. Daher kann er zu keinem Zeitpunkt Rückschlüsse ziehen, welche Rechnung er gerade durchführt – er rechnet „blind“. Am Ende der Rechnung werden Ergebnisse an den Nutzer zurückgesendet. „Der Nutzer kann als einziger die Ergebnisse interpretieren und nutzen, da nur er die Ausgangszustände der Qubits kennt“, erklärt Barz.

Beim Wiener Experiment wurden einzelne Lichtteilchen (Photonen) als Qubits verwendet. Deren Polarisation, die Schwingungsebene des Lichts, ist die Grundlage für das photonische Qubit, und Photonen sind perfekt geeignet, weil sie ideale Informationsträger sind und über weite Distanzen gesendet werden können.
 
Internationale Forschungskooperation

Das Projekt ist eine internationale Koperation von ForscherInnen des Vienna Center for Quantum Science and Technology (VCQ) an der Universität Wien, des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der University of Edinburgh, des Institute for Quantum Computing (University of Waterloo), des Centre for Quantum Technologies (National University of Singapore) und dem University College Dublin.

Publikation:
Demonstration of Blind Quantum Computing. Stefanie Barz, Elham Kashefi, Anne Broadbent, Joseph Fitzsimons, Anton Zeilinger, Philip Walther
DOI: 10.1126/science.1214707

Externer Link: www.univie.ac.at

Schärfer als Heisenberg erlaubt

Presseaussendung der TU Wien vom 16.01.2012

Messungen an der TU Wien führen zu einem tieferen Verständnis der quantenmechanischen Unschärfe.

Sie ist wohl das berühmteste Fundament der Quantenphysik – Heisenbergs Unschärferelation. Sie besagt, dass man nicht alle Eigenschaften von Quantenteilchen gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit bestimmen kann. Bisher wurde das oft dadurch begründet, dass eine Messung das Quantenteilchen eben notgedrungen verändert und dadurch andere Messungen verfälscht – doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Neutronen-Experimente von Professor Yuji Hasegawa und seinem Team an der TU Wien konnten nun verschiedene Beiträge zur Quanten-Unsicherheit aufschlüsseln und damit eine Theorie japanischer Kollegen bestätigen: Der Einfluss der Messung auf das Quanten-System ist nicht immer der Grund für die Mess-Unsicherheit. Heisenbergs Argumente für die Quanten-Unschärfe müssen also neu überdacht werden – die Unschärferelation selbst bleibt freilich bestehen. Die Ergebnisse wurden nun im Fachjournal „Nature Physics“ veröffentlicht.

Ort oder Impuls – doch niemals beides

Dass sich in der Quantenphysik bestimmte Größen nicht gleichzeitig messen lassen ist unbestritten. Die Frage ist, wie man das interpretieren muss. „Bis heute hört man oft von Heisenbergs berühmten Gedankenexperiment, in dem die Position eines Elektrons mit Licht gemessen werden soll“, sagt Jacqueline Erhart vom Atominstitut der TU Wien. Um die Position eines Teilchens sehr genau bestimmen zu können muss man Licht mit sehr kurzer Wellenlänge (also großer Energie) verwenden. Das bedeutet aber auch, dass ein starker Impuls auf das Teilchen übertragen wird: Das Teilchen erhält durch die Messung einen Schubs. Je genauer man den Ort misst umso dramatischer verändert man den Impuls des Teilchens. Ort und Impuls, so argumentierte Heisenberg, sind daher nicht gleichzeitig exakt messbar. Dasselbe gilt in der Quantenphysik für viele andere Messgrößen-Paare. Heisenberg war der Meinung, dass in solchen Fällen eine genauere Messung der einen Messgröße immer eine Störung der zweiten Messgröße verursacht. Das Produkt aus Ungenauigkeit der ersten Messung und Störung der zweiten Messung, so meinte er, kann eine gewisse Grenze nicht unterschreiten.

Die Natur ist unscharf – auch ohne Messung

Dass eine Messung das Quantensystem stört und damit das Ergebnis einer zweiten Messung verfälscht ist aber gar nicht der Kern des Problems. „Solche Störungen gibt es schließlich auch in der klassischen Physik, das hat mit Quantentheorie zunächst noch nichts zu tun“, erläutert Stephan Sponar (TU Wien). Die Unsicherheit liegt in der Quantennatur des Teilchens selbst: Schon lange weiß man, dass man sich in der Quantenphysik ein Teilchen eben nicht mehr als punktförmiges Objekt vorstellen kann, das eine eindeutig bestimmte Geschwindigkeit und eine klare Bewegungsrichtung hat. Stattdessen verhält sich ein Teilchen wie eine Welle – und bei Wellen lassen sich Aufenthaltsort und Impuls eben nicht gleichzeitig beliebig genau definieren. Man könnte sagen: Das Teilchen „weiß“ selbst nicht, wo es sich genau befindet und wie schnell es ist – ganz unabhängig davon, ob es gemessen wird oder nicht.

Berücksichtigung des Messvorgangs – neue Unschärferelation

„Um diese prinzipielle Unbestimmtheit und die zusätzliche Störung durch einen Messvorgang korrekt zu beschreiben, kommt man nicht umhin, das Teilchen gemeinsam mit dem Messapparat  im quantenmechanischen Formalismus  zu beschreiben“, erklärt Georg Sulyok (TU Wien). Genau das gelang dem japanischen Physiker Professor Masanao Ozawa 2003 und führte auf eine verallgemeinerte Unschärferelation: In seinen Gleichungen steckten unterschiedliche „Sorten“ von Unschärfe: Einerseits die Unsicherheit, die durch die Messung entsteht, weil sie in den Zustand des Systems eingreift und damit die andere Messung verfälscht. Das ist die Unsicherheit von Heisenbergs Ort-Impuls-Beispiel. Andererseits beinhalten die Gleichungen auch die grundlegende Quanten-Unsicherheit, die unabhängig von der Messung in jedem Quanten-System vorhanden ist.

Neutronen und ihre Spins

Durch ein ausgeklügeltes Experiment-Design konnten die unterschiedlichen Beiträge am Atominstitut der TU Wien nun gemessen und voneinander unterschieden werden. Dabei wurden nicht Ort und Impuls eines Teilchens untersucht, sondern die Spins von Neutronen. Der Spin in X-Richtung und der Spin in Y-Richtung kann nicht gleichzeitig genau gemessen werden – sie erfüllen eine Unschärferelation, ähnlich wie Ort und Impuls. Durch magnetische Felder wurde der Spin der  Neutronen aus dem Reaktor des Atominstituts in die richtige räumliche Orientierung gebracht, ihr Spin wurde in zwei aufeinander folgenden Messungen bestimmt. Durch kontrollierte Manipulationen des Messapparats konnte statistisch ermittelt werden, wie die unterschiedlichen Quellen der Unschärfe miteinander zusammenhängen.

Einfluss der Messung beliebig klein

„Nach wie vor gilt: Je exakter, die erste Messung durchgeführt wird, desto stärker wird die zweite Messung gestört – doch kann das Produkt aus Ungenauigkeit und Störung beliebig klein gemacht werden, auch kleiner, als Heisenbergs ursprüngliche Formulierung der Unschärferelation erlaubt“, sagt Professor Yuji Hasegawa. Doch auch wenn sich die Messungen kaum beeinflussen – unscharf bleibt die Quantenphysik trotzdem: „Die Unschärferelation ist natürlich nach wie vor richtig“, versichert das Forschungsteam. Man sollte nur mit seiner Begründung vorsichtig sein: „Die Unschärfe kommt nicht vom störenden Einfluss der Messung auf das Quanten-Objekt, sondern von der Quanten-Natur der Teilchen selbst.“ (Florian Aigner)

Originalpublikation:
Nature Physics DOI: 10.1038/NPHYS2194

Externer Link: www.tuwien.ac.at

Nicht nur unsichtbar, sondern auch lautlos

Presseinformation des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) vom 20.12.2011

KIT-Forscher haben das Konzept der optischen Tarnkappe auf Schallwellen übertragen.

Die Fortschritte der Nanotechnologie bei den Metamaterialien haben die Tarnkappe aus Mythologie und Science Fiction in die Wirklichkeit gebracht: Lichtwellen lassen sich so um ein zu versteckendes Objekt lenken, dass es aussieht, als wäre dieses nicht da. Was dabei für elektromagnetische Lichtwellen gilt, lässt sich auch auf andere Wellentypen wie Schallwellen übertragen: Einem Forscherteam des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gelang nun die erste Demonstration einer Tarnkappe für elastische Wellen, wie sie auch in Gitarrensaiten oder Trommelmembranen auftreten.

Es ist, als hätte Harry Potter nun auch einen Tarnumhang, der unHÖRbar macht. „Vielleicht ein Ort der Ruhe und Besinnlichkeit zu den Festtagen“, so die KIT-Forscher, denen es gelungen ist, die der optischen Tarnkappe zugrunde liegenden Konzepte auf Schwingungen in einer Platte im akustischen Bereich zu übertragen.

„Der Schlüssel zur Steuerung von Wellen liegt darin, ihre lokale Geschwindigkeit gezielt beeinflussen zu können – und das abhängig von der ‚Laufrichtung‘ der Welle“, sagt Dr. Nicolas Stenger vom Institut für Angewandte Physik (AP). In seinem Experiment setzte er das mit einem raffiniert mikrostrukturierten Material um, das aus zwei Polymeren zusammengefügt ist: einem weichen und einem harten Kunststoff in einer dünnen Platte. Die Schwingungen dieser Platte liegen im Bereich akustischer Frequenzen, also bei wenigen 100 Hertz, und lassen sich direkt von oben beobachten. Die Wissenschaftler fanden so heraus: Die Schallwellen werden um einen kreisförmigen Bereich in der einen Millimeter dünnen Platte herum gelenkt – sodass Schwingungen weder in diesen Bereich hinein noch heraus dringen. „Im Gegensatz zu anderen bekannten ‚Lärmschutzmaßnahmen‘ werden die Schallwellen hierbei aber weder absorbiert noch reflektiert“, sagt Professor Martin Wegener vom Institut für Angewandte Physik und Koordinator des DFG-Centrums für Funktionelle Nanostrukturen (CFN) am KIT. „Es ist so, als wäre einfach nichts da.“ Ihre Ergebnisse veröffentlichten die beiden Physiker und Professor Manfred Wilhelm vom Institut für Technische Chemie und Polymerchemie des KIT jetzt in der Fachzeitschrift „Physical Review Letters“.

Ihre Grundidee veranschaulichen die Wissenschaftler mit einer Geschichte: Eine kreisförmige Stadt litt unter dem lärmenden Autoverkehr durch ihr Zentrum. Schließlich kam der Bürgermeister auf die Idee, eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Autos einzuführen, die zentral auf die Stadt zu fahren: Je näher die Autos dem Stadtbereich kämen, umso langsamer mussten sie fahren. Gleichzeitig ließ der Bürgermeister Kreisstraßen um die Stadt herum bauen, auf denen man sogar schneller fahren durfte als sonst üblich. Auf diese Weise konnten die Autos zunächst auf die Stadt zu fahren und dann schnell um sie herum, sodass sie am Ende in der gleichen Richtung wieder herauskamen. Dabei brauchten sie genau so viel Zeit wie ganz ohne Stadt – von außen betrachtet wirkte es so, als wäre die Stadt einfach nicht da. (le)

Externer Link: www.kit.edu

An der Grenze der Reibung

Pressemitteilung der Universität Stuttgart vom 20.12.2011

Genaue Einblicke, wie zwei mikroskopische Flächen übereinander gleiten, könnten helfen, reibungsarme Oberflächen herzustellen

Das Problem gibt es im Großen wie im Kleinen, und schon den alten Ägyptern machte es zu schaffen. Doch während Physiker die Reibung etwa eines Steinquaders, den Arbeiter zu einer Pyramide ziehen, bereits seit längerem gut verstehen, können sie Reibung in mikroskopischen Dimensionen erst jetzt im Detail erklären. Forscher der Universität Stuttgart und des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme ebenfalls in Stuttgart haben in einem ausgeklügelten Experiment eine Lage regelmäßig angeordneter Kunststoffkügelchen über einen künstlichen Kristall aus Licht gezogen. Auf diese Weise konnten sie im Detail beobachten, wie die Schicht der Kügelchen über den Lichtkristall glitt. Anders als man intuitiv vermuten könnte, bewegen sich die Kügelchen dabei nicht alle gemeinsam. Vielmehr gleiten immer nur einige von ihnen, während die anderen auf ihren Plätzen sitzenbleiben. Diese Beobachtung bestätigt theoretische Voraussagen und erklärt auch, warum die Reibung zwischen mikroskopischen Oberflächen von ihrer atomaren Struktur abhängt.

Reibung bringt der Wirtschaft immense Verluste, ganz ohne Reibung liefe aber gar nichts mehr: Auf etwa acht Prozent des Bruttoinlandprodukts – das sind in Deutschland rund 200 Milliarden Euro – werden die Kosten geschätzt, die etwa durch den Verschleiß aufeinander reibender Maschinenteile verursacht werden. Und dass aneinander reibende Erdplatten in manchen Ländern durch Erdbeben schwere Schäden verursachen, ist dabei noch nicht berücksichtigt. Wenn jedoch Reifen oder Schuhsohlen nicht auf dem Boden haften würden, kämen weder Räder noch Füße voran. Die Faktoren, die bei diesen Beispielen für Reibung zwischen großen Objekten dominieren, haben Physiker bereits seit einiger Zeit recht gut verstanden. Entscheidend sind dabei nämlich die unzähligen kleinen Unebenheiten, die es auf jeder Oberfläche gibt. Sie bewirken, dass sich zwei ausgedehnte Oberflächen immer nur an einzelnen Punkten berühren.

Ganz anders ist das, wenn zwei mikroskopisch kleine Flächen aufeinander reiben. Sie berühren sich – wenn sie entsprechend akkurat gearbeitet sind – mit allen Atomen ihrer Oberfläche. Wie Reibung auf dieser atomaren Ebene stattfindet, haben Stuttgarter Forscher nun erstmals beobachtet. Sie können in ihrem Experiment auch nachvollziehen, warum Oberflächen mit gleicher Struktur stärker aufeinander reiben als solche mit unterschiedlicher Struktur. „Wir schaffen so die Basis, möglichst reibungsarme Mikro- und Nanomaschinen zu konstruieren“, sagt Clemens Bechinger, Professor an der Universität Stuttgart und Fellow des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme.

Verzerrungen der Oberfläche schaffen Bewegung

Sein Team hat aus Laserlicht und elektrisch geladenen Kunststoffkügelchen in einem Wasserbad ein zweidimensionales Modell für zwei aufeinander reibende Oberflächen geschaffen. Da sich die in dem Wasser schwebenden Kügelchen elektrisch abstoßen, ordnen sie sich in einer periodisch geordneten Schicht an. Sie bilden die eine Oberfläche. Die andere Oberfläche erzeugten die Forscher unter der Schicht der Kügelchen mit intensiven Laserstahlen. Deren elektromagnetische Wellen überlagern sie so, dass sich ein Lichtkristall, eine Art optischer Eierkarton bildet. „Die Verwendung einer durch Licht erzeugten Oberfläche ermöglicht es uns erstmals, die Vorgänge an reibenden Flächen direkt mit einer Kamera zu beobachten“, sagt Thomas Bohlein, der das Experiment im Rahmen seiner Doktorarbeit vorgenommen hat. „In Experimenten mit dreidimensionalen Objekten ist das nicht möglich, weil die Grenzschicht nicht zu sehen ist.“

Zunächst stimmte Thomas Bohlein den Abstand der Mulden in dem optischen Eierkarton genau auf den Abstand der Kunststoffkügelchen ab. Eigentlich könnte man vermuten, dass die Flächen sich ruckartig voneinander lösen und neu ineinander einrasten würden, so als würde man versuchen zwei ineinander sitzende Eierkartons übereinander zu ziehen.

Im Experiment zeigte sich allerdings ein anderer Mechanismus. Als das Team die Kunststoff-Kugeln über die optische Oberfläche zog, fingen nicht alle Kügelchen gleichzeitig an zu rutschen, vielmehr bewegten sich die Partikel nur in einzelnen Bereichen. In diesen Arealen verließen die Kügelchen ihre komfortablen Mulden und rückten zudem ein wenig zusammen. Möglich ist das, weil die Kügelchen, aber auch die Atome in einer Oberfläche nicht wie betoniert nebeneinander sitzen, sondern immer ein bisschen Spielraum haben. Die durch den Zug hervorgerufenen Verzerrungen der Kugel- oder Atomschicht passen dann einfach nicht mehr genau auf die Oberfläche des optischen Kristalls. Das machte es viel einfacher, die Teilchen aus ihren Mulden zu ziehen.

Oberflächen mit unterschiedlichen Strukturen gleiten besser

Während die Forscher an der Teilchenlage ziehen, wandern die gestauchten Zonen durch die Kugelschicht, wobei sich nur die Teilchen in diesen Zonen aus ihren Mulden lösen können. „Für die gesamte Lage ist es effizienter, eine Verzerrungszone sukzessive durch die Schicht wandern zu lassen, als alle Kugeln gleichzeitig von einer Mulde zur nächsten zu bewegen“, sagt Clemens Bechinger. Die gestauchten Gebiete, die in Richtung der ziehenden Kraft über die optische Oberfläche wanderten, wurde umso größer, je stärker das Team an der Lage der Kunststoff-Kügelchen zog.

Im nächsten Experiment schoben die Stuttgarter Physiker die Mulden des optischen Eierkartons etwas enger zusammen, so dass dieser von vorne herein schlechter mit der Anordnung der Kunststoff-Kügelchen übereinstimmte. „Dadurch finden weniger Teilchen einen Platz in einer Mulden, und die Verzerrungszonen lassen sich deutlich einfacher über die Oberfläche bewegen“, sagt Thomas Bohlein.

Dass lokale Verzerrungen – Physiker sprechen hierbei von kinks und antikinks – bei der Reibung zwischen mikroskopischen Oberflächen die entscheidende Rolle spielen, hatten Physiker schon vermutet. „Wir haben diese Veränderungen in der Oberfläche jetzt aber zum ersten Mal experimentell beobachtet“, sagt Clemens Bechinger. „Damit haben wir die theoretischen Vorhersagen über den Reibungsmechanismus in atomaren Dimensionen bestätigt.“

Reibungslos gleitende Oberflächen werden denkbar

Die Stuttgarter Forscher gingen aber noch einen Schritt weiter. Kaum eine Vorstellung hatten Physiker nämlich, wie eine kristalline auf einer quasikristallinen Oberfläche reibt. Quasikristalle, für deren Entdeckung Shechtman in diesem Jahr den Chemie-Nobelpreis erhielt, weisen kleine Bereiche mit einer strengen Ordnung auf. Diese wiederholt sich in größeren Dimensionen aber nicht regelmäßig wie in einem echten Kristall.

Einen Quasikristall formte Thomas Bohlein nun unter der kristallinen Lage der Kunststoff-Kügelchen, indem er wiederum die Laserstrahlen geschickt überlagerte. In den Mulden auf der quasikristallinen Oberfläche kamen die Kunststoff-Kügelchen nur noch selten zu liegen, und die Reibung reduzierte sich verglichen mit zwei kristallinen Oberflächen drastisch. „Unser Experiment liefert den Beweis, dass die Reibung auf quasikristallinen Oberflächen unter anderem deshalb so gering ist, weil die Strukturen nicht zueinander passen“, sagt Thomas Bohlein.

Die Erkenntnisse, wie Reibung im Mikro-Maßstab funktioniert, könnten auch praktische Konsequenzen haben. „Vor allem die Kombination einer kristallinen und einer quasikristallinen Oberfläche bietet die Möglichkeit die Reibung in Mikro- und Nano-Systemen zu reduzieren“, sagt Clemens Bechinger. „Denkbar ist aber auch, Oberflächen so zu gestalten, dass diese nahezu reibungslos übereinander gleiten.“

Originalveröffentlichung:
Thomas Bohlein, Jules Mikhael und Clemens Bechinger
Observation of kinks and antikinks in colloidal monolayers driven across ordered surfaces
Nature Materials, published online: 18. Dezember 2011; DOI: 10.1038/NMAT3204

Externer Link: www.uni-stuttgart.de