Der Seife auf den Leim gegangen

Presseinformation der Max-Planck-Gesellschaft vom 19.02.2010

Seifen und andere Detergenzien wirken zumindest in Nano-Emulsionen offenbar anders als bislang angenommen

Impfstoffe, medizinische Sprays, möglicherweise aber auch Cremes oder Salben müssen künftig vielleicht neu gemischt werden. Denn die Substanzen, die diese Emulsionen stabilisieren, wirken entweder kaum oder anders als seit gut 100 Jahren gedacht. Physiker des Max-Planck-Instituts für Metallforschung haben festgestellt, dass Tröpfchen in Nano-Emulsionen wie etwa in Impfstoff-Zubereitungen kaum von Detergenzien eingehüllt werden. Detergenzien, zu denen auch Seife gehört, werden Emulsionen zugesetzt, um Öltröpfchen in einer wässrigen Umgebung zu stabilisieren. Sie bestehen aus einem öllöslichen und einem wasserlöslichen Teil und sollen zwischen den beiden Flüssigkeiten vermitteln, indem sie die Oberflächenspannung zwischen ihnen herabsetzen. Das tun sie aber zumindest in Emulsionen mit nanoskopischen Tröpfchen längst nicht so effektiv wie bislang angenommen. (J. Am. Chem. Soc., 2010, 132, 2122-2123)

Man darf nicht alles glauben, was in Lehrbüchern steht. Das muss Sylvie Roke, Leiterin einer Max-Planck Forschergruppe am Max-Planck-Institut für Metallforschung, derzeit immer wieder Studenten, aber auch erfahrenen Kollegen erklären. Seit 100 Jahren vermitteln physikalische Lehrbücher ein Bild von stabilen Emulsionen, das zwar einleuchtet, aber offenbar falsch ist: Demnach setzten sich die gleichermaßen öl- wie wasserlöslichen Moleküle einer Seife auf die Oberflächen der winzigen Öltröpfchen, die in einer wässrigen Umgebung schweben. Auf diese Weise reduziere die Seife die Oberflächenspannung des Wassers und stabilisiere die Emulsionen. Doch diese Vermittler-Rolle erfüllen die Seifen-Moleküle in viel geringerem Maße als bislang gedacht, wie Sylvie Roke und ihre Mitarbeiter jetzt festgestellt haben.

Die Physikerin hat eine Methode entwickelt, um gezielt den molekularen Aufbau von Kolloid-Oberflächen zu untersuchen – dazu gehören auch Öltröpfchen in einer Emulsion. Diese Methode heißt Schwingungs-Summen-Frequenz-Spektroskopie und ermittelt aus charakteristischen Schwingungen der Oberflächen-Moleküle nicht nur, welche Substanzen auf den Öltröpfchen sitzen, sondern auch in welchen Mengen. Auf diese Weise hat das Team von Sylvie Roke verschiedene Mischungen aus Wasser, Öl und Natriumdodecylsulfat (NDS) – einem gängigen Detergenz in Shampoos und Cremes – untersucht. Die Flüssigkeiten mischen die Forscher so gut, dass die Öltröpfchen keine 100 Nanometer mehr messen. Und wie sie festgestellt haben, umgeben sich die Öltröpfchen nur mit wenigen NDS-Molekülen. Das ändert sich auch kaum, selbst wenn die Forscher die NDS-Konzentration in der Mischung drastisch erhöhen.

Aus der Menge der NDS-Moleküle auf den Öltröpfchen berechneten die Physiker, wie stark das Detergenz die Oberflächenspannung zwischen Wasser und Öl reduziert. „Der Effekt ist marginal und fällt viel geringer aus als in planaren Systemen“, sagt Sylvie Roke. Als planares System bezeichnet die Physikerin eine Mischung, in der sich Öl über eine Seifenlösung schichtet. An solchen Schichtsystemen hatten Forscher vor gut 100 Jahren untersucht, wie Seife die Oberflächenspannung zwischen Öl und Wasser senkt: Die Seifenmoleküle ordnen sich an der Grenze der beiden Flüssigkeiten so an, dass ihr wasserlöslicher Kopf im Wasser steckt und der öllösliche Schwanz ins Öl ragt.

Um den Aufbau von Emulsionen, in denen sich das Öl im Wasser tropfenförmig verteilt, zu untersuchen, fehlte bis vor kurzem eine geeignete Methode. Also schlossen die Physiker aus den Untersuchungen, die sie vor 100 Jahren an Schichtsystemen machten, auf Emulsionen: Darin werde ein Detergenz sicherlich genauso verhindern, dass sich Öl und Wasser trennen. „Selbst die Gutachter unserer Ergebnisse hielten daran fest und lehnten unsere Arbeit mehrmals ab“, sagt Roke: „Aber ich bin mir sicher, dass wir die Lehrbücher ändern müssen.“ Sie geht sogar davon aus, dass Chemiker in Berechnungen schon mehrfach Hinweise gefunden haben, die der etablierten Theorie widersprechen: „Aber wahrscheinlich haben sie ihren Ergebnissen nicht getraut“, so Roke. Nun hat sie nach Vorträgen auf Konferenzen von Kollegen aber auch schon gehört, die Ergebnisse könnten erklären, warum die eignen Experimente nicht funktionieren.

Jetzt wollen sie und ihre Mitarbeiter herausfinden, was Nano-Emulsionen, die in der Medizin oft Anwendung finden, tatsächlich stabilisiert. „Vielleicht brauchen wir dafür gar kein Detergenz“, sagt Sylvie Roke: „Die Seife könnte aber auch einfach nur anders wirken als bislang gedacht.“ Und das möglicherweise nicht nur in Nano-Emulsionen. Um das zu prüfen, werden die Forscher auch Emulsionen mit größeren Tröpfchen – also zum Beispiel Cremes und Salben – mit ihrer Methode inspizieren. „Wir haben uns sogar einen Trick überlegt, um die Wirkung von Spülmittel zu untersuchen“, sagt Roke: „Ob das klappt, wissen wir aber noch nicht.“ [PH]

Originalveröffentlichung:
Hilton B. de Aguiar, Alex G. F. de Beer, Matthew L. Strader and Sylvie Roke
The Interfacial Tension of Nanoscopic Oil Droplets in Water Is Hardly Affected by SDS Surfactant
J. Am. Chem. Soc., 2010, 132 (7), pp 2122-2123; DOI: 10.1021/ja9095158

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Massivbauteile perfekt umgeformt

Mediendienst der Fraunhofer-Gesellschaft vom Februar 2010

Sollen Metalle umgeformt werden, entstehen häufig Schäden an den Werkstoffen. Eine mögliche Ursache: Der Pressdruck ist zu groß, das Material bekommt Risse und Löcher. Per Simulation am PC berechnen Forscher nun, wie sich Defekte in den Bauteilen vermeiden lassen.

Auf der Autoshow glänzt und glitzert es in allen Ecken. Links steht ein mit Blattgold überzogener Porsche, auf der anderen Seite wird ein bordeauxfarbener Mercedes präsentiert. Doch bis die Luxusschlitten als ausgereifte Produkte zum Verkauf stehen, haben sie einen langen Weg vor sich: Die Eigenschaften der verwendeten Werkstoffe sind komplex, beim Herstellen der Karrossen können daher eine Reihe von Komplikationen auftreten. Eine erste Hürde müssen die Stahlhersteller nehmen, die am Beginn der Fertigungskette stehen. Sie verformen massive Teile aus Metall zu Blechen, Rohren, Drähten und Stangen, welche die Autobauer dann verarbeiten. Bei diesem Umformungsprozess können die Werkstoffe Schaden nehmen. Sie werden zu stark deformiert, etwa weil die Reibung zu groß oder die Temperatur des Umformwerkzeugs nicht optimal ist.

Um ein einwandfreies Bauteil zu produzieren, müssen die Hersteller nicht nur zahlreiche Prototypen mit den richtigen Materialeigenschaften anfertigen, sondern auch im Trial-and-error-Verfahren ausloten, wie das Umformwerkzeug eingestellt sein muss – ein zeitaufwändiger und teurer Vorgang. Den Forschern des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg ist es gelungen, diesen Prozess mit Hilfe von computergestützten Modellen kostengünstiger zu gestalten. »Mit unserer numerischen Simulation berechnen wir, wie stark sich ein Bauteil deformieren lässt, bevor ein Riss entsteht. Und wir analysieren, welchen Einfluss Faktoren wie Pressdruck oder das verwendete Schmiermittel auf die Eigenschaften des Werkstoffs haben«, sagt Dr. Dirk Helm, Projektleiter am IWM. Derzeit erhältliche kommerzielle Software könne das Umformverhalten von Massivbauteilen aus Metall nicht so detailgenau voraussagen wie seine Simulationsroutinen. »Wir konnten feststellen, dass durch eine spezielle Geometrieänderung eines Umformwerkzeugs Löcher vermieden wurden, da in diesem Fall die Porendichte nicht stark, sondern nur geringfügig gestiegen ist«, erklärt Helm. »Mit unserer Simulation können wir die optimalen Eigenschaften der Bauteile und der Umformwerkzeuge wesentlich schneller identifizieren als durch Versuch und Irrtum.« Der Forscher ist überzeugt, dass sich der Ausschuss mit Simulationen deutlich reduzieren lässt.

Die Software hat sich in der Praxis bereits bewährt: Bislang verwenden die Experten ihre numerische Simulation bei Kaltumformungsprozessen, bei denen der Einfluss der Temperatur eines Werkzeugs keine Rolle spielt. In Zukunft soll die Computersimulation auch bei Warmumformungsprozessen eingesetzt werden.

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Mustermacher auf einer Nano-Insel

Presseinformation der Max-Planck-Gesellschaft vom 12.02.2010

Das Interferenzmuster, das Elektronen einer Nanostruktur erzeugen, hängt von ihrer Spinorientierung ab

Einsperren hilft – nicht nur, wenn Verbrecher ihre wohlverdiente Strafe erhalten sollen, sondern auch in der Physik: Indem sie Elektronen auf einen engen Raum begrenzten, konnten die Forscher um Dirk Sander, Valeri Stepanyuk und Jürgen Kirschner vom Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle für die Elektronen und ihre Eigendrehimpulse („Spins“) grundlegende quantenphysikalische Phänomene demonstrieren. Aber ihre Arbeit geht über Grundlagenforschung hinaus: Sie eröffnet die Möglichkeit, die Spinpolarisation auf einer Nanometerskala zu manipulieren. Das ist für Entwicklungen der Spintronik äußerst interessant, also der Informationsverarbeitung, die zusätzlich zur Ladung auch den Spin von Elektronen ausnutzt und dadurch kleiner, schneller und sparsamer ist. Die Ergebnisse der Physiker aus Halle sind in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Science“ veröffentlicht. (Science, 12. Februar 2010)

Der enge Raum – das ist für die Forscher eine dreieckige Kobalt-Insel auf einem Kupferkristall: Die Insel ist nur zwei Atomlagen dick und hat eine Kantenlänge von 12 Nanometern, besteht somit gerade mal aus ca. 10 000 Kobaltatomen. Kupfer und Kobalt unterscheiden sich hinsichtlich ihrer elektronischen Struktur. Insbesondere ist Kupfer nichtmagnetisch, Kobalt hingegen magnetisch. Der Inselrand ist eine elektronische Barriere, die Elektronen sind also auf der Insel eingesperrt.

Untersucht wird die Insel mit der magnetischen Spitze eines Rastertunnelmikroskops (RTM). Die Spitze brigen die Forscher sehr nahe an die Insel gebracht. Dann tunneln Elektronen von der Spitze in die Insel. Gemessen wird der Tunnelstrom in Abhängigkeit von der angelegten Spannung zwischen Spitze und Insel. So ermitteln die Physiker den differentiellen elektrischen Leitwert (der Kehrwert des elektrischen Widerstands).

Der besondere Clou des RTM in Halle: Die Messungen werden in Magnetfeldern gemacht, die einige 10.000 Mal stärker als das Erdmagnetfeld sind. So können die Forscher zwei verschiedene magnetische Konfigurationen hergestellen und untersuchen: Die Elektronen-Spins der RTM-Spitze und die der Insel, die für die Magnetisierung verantwortlich sind, weisen in einem Fall in die gleiche, im anderen Fall in die entgegengesetzte Richtung – man spricht von paralleler beziehungsweise antiparalleler Konfiguration. Die Wissenschaftler aus Halle haben in beiden Konfigurationen die Oberfläche der Insel abgerastert und den Tunnelstrom gemessen. So erstellten sie sowohl für die parallele als auch für die antiparallele Konfiguration eine Landkarte, die den Leitwert in Abhängigkeit von der Position auf der Insel darstellt.

Dadurch, dass die Elektronen auf der Insel eingesperrt sind, zeigt die Landkarte der Leitwerte sowohl für die parallele als auch für die antiparallele Konfiguration ein räumliches Muster: Gemäß ihrem Wellencharakter bilden die Elektronen auf der Insel stehende Wellen aus. Allerdings – und das ist das Interessante an den Messergebnissen – wirkt sich das Einsperren in paralleler Konfiguration anders aus als in antiparalleler Konfiguration: Eine dritte Landkarte, in der die Wissenschaftler eintrugen, um wie viel die beiden Werte voneinander abwichen zeigte ebenfalls ein räumliches Muster. Mit anderen Worten: Auch die Spinpolarisation, also das Vorhandensein einer Vorzugsrichtung für den Elektronenspin, ist in der dreieckigen magnetischen Nanostruktur räumlich moduliert.

Untermauern konnten die Wissenschaftler ihre Interpretation durch so genannte ab-initio-Berechnungen. Sie haben damit erstmals gezeigt, dass die Interferenz der Elektronen in der Nanostruktur vom Elektronen-Spin abhängt. [she]

Originalveröffentlichung:
Hirofumi Oka, Pavel Ignatiev, Sebastian Wedekind, Guillemin Rodary, Larissa Niebergall, Valeri Stepanyuk, Jürgen Kirschner
Spin-Dependent Quantum Interference Within a Single Magnetic Nanostructure
Science, 12. Februar 2010

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Virtueller Museumsführer

Mediendienst der Fraunhofer-Gesellschaft vom Februar 2010

Eine Fraunhofer-Software kann archäologische Schätze zum Leben erwecken. Beim virtuellen Rundgang durch antike Bauwerke werden echte Bilder mit digitalen Informationen angereichert und dem Museumsbesucher nahegebracht.

Auf eine virtuelle Zeitreise in die Vergangenheit würde sich wohl jeder Besucher eines Archäologiemuseums gern begeben. Forscher machen dies heute schon möglich. Beispielsweise konnte man bis vor kurzem im Allard Pierson Museum in Amsterdam durch historische Stätten spazieren. Neben einer Fülle von Kunstwerken stand dort auf einer drehbaren Säule ein Flachbildschirm. Auf den ersten Blick zeigte er einen Ausschnitt dessen, was an der Wand hing: ein riesiges Schwarzweißfoto mit den Ruinen des Forum Romanum. Doch sobald ein Besucher den Schirm zur Seite schwenkte, zeigte der Monitor nicht mehr die Mitte der Fotografie, sondern ihren linken Teil. An der Rückseite des schwenkbaren Displays war eine Kamera angeschlossen. Auf dem Monitor erschienen Informationen zum Gesehenen. Ein Text klärte darüber auf, dass die Kamera gerade auf die Ruine des Saturn-Tempels gerichtet ist. Gleichzeitig zeigte eine digitale Animation, wie der intakte Tempel einst ausgesehen haben mag. Schwenkte der Besucher den Schirm weiter, so stieß er auf Informationen, Bilder und Videos zu anderen antiken Bauwerken, etwa des Kolosseums.

Hinter der raffinierten Animation steckt eine Software, die am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD in Darmstadt entwickelt wurde. »Wir haben dem Rechner beigebracht, das Bild zu erkennen«, erläutert Fraunhofer-IGD-Forscher Michael Zöllner. »Dadurch weiß das Programm, welche Stelle des Bilds sich gerade im Zentrum der Kamera befindet und kann die passende Überlagerung einblenden – einen Text, ein Video oder eine Animation.« Unter den Überblendungen ist das Originalbild immer deutlich zu erkennen. Dadurch ist der Besucher stets informiert, wo er gerade virtuell spazieren geht. Experten bezeichnen diese Technik als Augmented Reality, erweiterte Realität.

Im Museum läuft die IGD-Software derzeit noch auf einem Mini-Rechner, gesteuert über einen Touchscreen. Das handliche Gerät lässt ahnen, wohin der Trend geht – zum mobilen, virtuellen Reiseführer. Die Vision: Der Tourist hält das Gerät vor ein barockes Fürstenschloss, und schon erscheinen auf dem Schirm die passenden Informationen – auf die Wünsche des Benutzers zugeschnitten. Wie so etwas in der Praxis aussehen könnte, haben die Forscher im Projekt »iTACITUS« erprobt. Zöllners Team programmierte einen portablen Computer so, dass er als elektronischer Touristenführer für das Königsschloss Reggia di Venaria Reale nahe Turin fungierte. Die neue Handy-Technik könnte der erweiterten Realität schon bald zum Durchbruch verhelfen. »Durch das Smartphone wird Augmented Reality massenmarkttauglich«, freut sich Zöllner.

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Wo die Knochen verletzter Nervenzellen heilen

Presseinformation der Max-Planck-Gesellschaft vom 08.01.2010

Wichtig für die Regeneration: Die Stützstrukturen von Nervenzellen können direkt an einer Verletzungsstelle entstehen

Mikrotubuli sind kleine Proteinröhrchen, die Zellen ihre Struktur geben und ihr Wachstum sowie ihre Teilung ermöglichen. Bisher wurde angenommen, dass Mikrotubuli von dem Zentrosom, einem Zellorganell in der Nähe des Zellkerns, gebildet werden. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried und für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden konnten nun zeigen, dass ausgereifte Nervenzellen des Zentralen Nervensystems kein aktives Zentrosom mehr besitzen, und dass sich Mikrotubuli in diesen Zellen unabhängig vom Zentrosom neu bilden können. Die Ergebnisse widerlegen die Lehrmeinung zum Ursprung von Mikrotubuli. Zudem zeigen sie, dass ein essentieller Prozess zur Regeneration auch in ausgereiften Nervenzellen des Gehirns und Rückenmarks zur Verfügung steht. (Science, 8. Januar 2010)

Zellen sind die Bausteine aller Lebewesen. Angepasst an ihre sehr unterschiedlichen Aufgaben, gibt es eine Vielzahl verschiedener Zelltypen und Zellformen. Diese reichen von nahezu runden Hefezellen bis hin zu tausendfach verzweigten Nervenzellen. Ermöglicht werden diese verschiedenen Zellformen durch das Zellskelett, das den Zellen Stabilität und Struktur verleiht. Das Zellskelett besteht aus kleinen Proteinröhrchen, den Mikrotubuli, die je nach Bedarf verlängert oder verkürzt werden können. So kann eine Zelle wachsen oder zum Beispiel einen Fortsatz bilden und wieder zurückziehen. Doch auch die Zellteilung wäre durch die stabilisierenden und richtungsweisenden Mikrotubuli nicht möglich.

Nach der bisherigen Lehrbuchmeinung entstehen Mikrotubuli am Zentrosom, einer Struktur in der Nähe des Zellkerns, die auch als „Mikrotubuli Organisierendes Zentrum“ bezeichnet wird. Seine Rolle bei der Zellteilung und der Mikrotubuli-Entstehung macht das Zentrosom auch für Neurobiologen sehr interessant. Denn ausgereifte Nervenzellen können sich generell nicht mehr teilen und wachsen im Gehirn und Rückenmark nach einer Verletzung nicht mehr aus. Könnte dies daran liegen, dass das Zentrosom seine Funktion in diesen Nervenzellen verliert?

Dieser Frage gingen Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried zusammen mit ihren Kollegen vom Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden und des Erasmus Medical Centers in Rotterdam auf den Grund. Wie die Forscher nun im Fachmagazin Science berichten, ist das Zentrosom in ausgereiften Nervenzellen tatsächlich inaktiv. Ohne aktives Zentrosom sollte die Teilung dieser Nervenzellen sehr schwer werden.

Nach diesem Fund lag die nächste Frage auf der Hand: Ist das inaktive Zentrosom auch ein Grund dafür, dass Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark nach einer Verletzung nicht mehr auswachsen? Erst vor Kurzem konnten die Martinsrieder Neurobiologen zeigen, dass die Mikrotubuli am Ende solch einer verletzte Nervenzelle völlig durcheinandergeraten. Neue Mikrotubuli müssten nach der gängigen Meinung vom Zentrosom „nachgeschoben“ werden, was natürlich bei einem inaktiven Zentrosom nicht möglich ist.

Um diese Frage zu klären, untersuchten die Max-Planck-Wissenschaftler aus Martinsried und Dresden anhand von Zellkulturen, wo Mikrotubuli in Nervenzellen entstehen. Dazu zerlegten sie die Proteinröhrchen zunächst in ihre Einzelteile und beobachteten dann ihren erneuten Aufbau in den Zellen. Wie erwartet entstanden die Mikrotubuli in jungen Nervenzellen vor allem am Zentrosom. Jedoch nicht ausschließlich: Einzelne Mikrotubuli bildeten sich auch an ganz anderen Stellen des Zellkörpers. „Die wirkliche Sensation zeigte sich aber erst, als wir ausgereifte Nervenzellen untersuchten“, berichtet Michael Stiess von seiner Arbeit. Denn auch in diesen Zellen entstanden neue Mikrotubuli – und zwar überall in der Zelle, nur nicht am Zentrosom.

Die Ergebnisse widerlegen die Lehrmeinung, dass Mikrotubuli vom Zentrosom aus gebildet werden. Das hat auch Konsequenzen für die Regeneration von Nervenzellen, denn anscheinend können Mikrotubuli direkt an einem verletzten Ausläufer einer Nervenzelle gebildet werden und müssen nicht erst aufwendig vom Zellkörper dorthin transportiert werden. Wichtig ist hier auch eine weitere Entdeckung der Wissenschaftler: Die vor Ort gebildeten Mikrotubuli reichen aus, um eine Nervenzelle auswachsen zu lassen. So wuchsen selbst junge Nervenzellen weiter, obwohl die Wissenschaftler ihre Zentrosome mit einem speziellen Laser entfernt hatten. „Somit sollte eine der Grundvoraussetzungen für die Regeneration von Nervenzellen auch im Gehirn und Rückenmark zur Verfügung zu stehen“, freut sich Frank Bradke, der Leiter der Studie. Nun gilt es herauszufinden, wie dieser Aufbau von Mikrotubuli und somit das Auswachsen verletzter Nervenzellen im lebenden Organismus angeregt werden kann. [SM]

Originalveröffentlichung:
Michael Stiess, Nicola Maghelli, Lukas C. Kapitein, Susana Gomis-Rüth, Michaela Wilsch-Bräuninger, Casper C. Hoogenraad, Iva M. Tolić-Nørrelykke, Frank Bradke
Axon Extension Occurs Independently of Centrosomal Microtubule Nucleation
Science, 8. Januar 2010

Externer Link: www.mpg.de