Sichere Tanks für Wasserstofffahrzeuge

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 01.09.2023

Wasserstoff ist ein Hoffnungsträger im Kontext der Energie- und Mobilitätswende. Doch das Gas ist auch hochexplosiv und es bedarf strenger Sicherheitsvorkehrungen, um Wasserstoff sicher zu verwenden. Aktuelle Brennstoffzellenfahrzeuge führen den Wasserstoff gasförmig in Drucktanks mit. Diese Kernelemente des H2-Antriebssystems müssen selbst bei maximalen Betriebsbelastungen sicher bleiben. Um Gefahrensituationen zu vermeiden, sind regelmäßige Wartungen der Hochdruck-Speichersysteme Pflicht. Doch die aktuell im Abstand von zwei Jahren vorgeschriebene Prüfung des Tanks ist nur eine äußerliche Sichtprüfung. Schäden im Innern des Tanks können mit dieser konventionellen Prüfmethode nicht detektiert werden. Im Verbundprojekt HyMon entwickeln Forschende des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF gemeinsam mit Partnern eine sensorbasierte On-Board-Strukturüberwachung, die eine dauerhafte Kontrolle der H2-Drucktanks ermöglichen und so eine hohes Sicherheitsniveau von Wasserstofffahrzeugen gewährleisten soll.

Wasserstoff wird derzeit gasförmig unter hohem Druck von bis zu 700 bar in Behältern aus Faserverbundwerkstoffen (FVK) gespeichert. Diese sind im Vergleich zu Metalltanks aufgrund ihrer geringen Masse für den Einsatz im Mobilitäts- und Transportsektor prädestiniert. Aus Sicherheitsgründen werden die H2-Drucktanks vor ihrem ersten Einsatz aufwendigen Prüfungen unterzogen, um einen sicheren Betrieb über die Lebensdauer zu gewährleisten. Darüber hinaus muss die Integrität des Behälters bei wiederkehrenden Belastungen durch Betankung und Entnahme des Wasserstoffs wie auch im Schadensfall (z. B. Auffahrunfall) sichergestellt sein. Die derzeit vorgeschriebenen Sichtprüfungen auf eine äußere Beschädigung des Tanks können dies nicht leisten. Alternativ kann die Schadensdetektion durch eine dauerhafte Überwachung – sogenanntes Structural Health Monitoring, kurz SHM – des Druckbehälters realisiert werden. Ein entsprechendes intelligentes System zur permanenten Zustandsüberwachung von Wasserstofftanks entwickeln Forschende des Fraunhofer LBF in Darmstadt in enger Zusammenarbeit mit Partnern im Projekt HyMon. Diese On-Board-Strukturüberwachung – bestehend aus geeigneter Sensorik und Auswerteelektronik – soll zum einen die Daten für den Service- und Reparaturfall liefern. »TÜV-Prüfer erhalten durch unsere Technologie beispielsweise nach einem Unfall objektive Informationen über die Belastungen des Tanks und können so objektiv entscheiden, ob dieser noch wiederverwendbar ist oder ausgetauscht werden muss«, sagt Johannes Käsgen, Wissenschaftler am Fraunhofer LBF. Zum anderen soll sie dabei unterstützen, die Wartungskosten zu senken und eine sichere Ausnutzung der Tanks über die gesamte Lebensdauer zu gewährleisten.

Schallemissions- und Dehnungssensoren detektieren Schäden im Tank

Im Fokus der Forschungsarbeiten stehen Schallemissionssensoren bzw. Acoustic-Emission-Sensoren. Reißt eine einzelne Kohlefaser im Drucktank, entsteht eine Schallwelle, die durch die Fasern läuft. Die Sensoren erfassen die hochfrequente Schallwelle und können so die Anzahl der gebrochenen Fasern ermitteln. »Durch Sonderlastfälle, beispielweise Auffahrunfälle, können die Tanks lokal beschädigt werden, wodurch innerhalb kürzester Zeit viele Fasern brechen«, erklärt Käsgen. »Die Messsignale werden durch eine Auswerteelektronik verarbeitet und informieren so über den Gesundheitszustand des Tanks.« Die erforderlichen Algorithmen und Methoden zur Detektion von Faserbrüchen werden am Fraunhofer LBF entwickelt. Diese umfassen beispielsweise die Frequenzanalysen der Schallwelle. »Sensoren am Tank nehmen die hochfrequenten Schallwellen im Falle eines Faserbruchs auf, die Algorithmen detektieren die Faserbrüche, die gezählt werden. Nimmt die Rate an Faserbrüchen plötzlich zu, so ist das ein Indiz, dass der Wasserstofftank am Ende seiner Nutzungszeit ist«, resümiert der Forscher den Ablauf. Die durchgängige On-Board-Strukturüberwachung garantiert ein erhöhtes Sicherheitsniveau von Wasserstofffahrzeugen, da mögliche Schäden auch bei kleinen Impacts – etwa durch das Aufsetzen auf einen Poller – und die Restlebensdauer des Tanks abgeschätzt werden kann. Durch die umfassende Qualitätssicherung lässt sich darüber hinaus ein unnötiger Austausch der Wasserstofftanks vermeiden.

Neben Acoustic-Emission-Sensoren werden auch faseroptische Dehnungssensoren in die Tanks integriert. Diese bestehen aus lichtleitenden Glasfasern, in die sogenannte Faser-Bragg-Gitter-Sensoren integriert sind. Die Glasfasern werden direkt bei der Herstellung in die FVK-Schicht des Tanks eingewickelt oder nachträglich auf die Oberfläche aufgebracht, um eine kontinuierliche oder periodische automatisierte Überwachung von Dehnungen rund um den Wasserstofftank zu ermöglichen. Anders als konventionelle Dehnungssensoren eignen sich diese Glasfasern aufgrund ihrer Robustheit gegenüber hohen Materialdehnungen und Belastungszyklen besonders für die Überwachung von kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen. Mit den Messdaten der Dehnungssensoren werden zum einen die Berechnungsmodelle der Drucktanks verifiziert und zum anderen Erkenntnisse darüber gewonnen, wie sich das Materialverhalten über die Lebensdauer des Tanks verändert, um hieraus Rückschlüsse auf den Ermüdungszustand des Materials zu ziehen.

Komplettsystem wird im Versuchsfahrzeug getestet

Im Prüfstand am Fraunhofer LBF werden zunächst anhand von sensorbestückten Kohlefaser-Flachproben verschiedene Arten von Schädigungen erzeugt – etwa Faserbrüche, Matrixbrüche oder Delaminationen – und mit den Sensoren die Schädigungssignale erfasst. Anschließend wird beurteilt, ob die Sensoren in der Lage sind, die Signale in ausreichender Qualität aufzuzeichnen, und ob die Algorithmen anhand der Signale die Schädigungsmechanismen richtig zuordnen können. Im nächsten Schritt wird das komplette Sensorsystem an dünnwandigen Modellbehältern und anschließend an Hochdruck-Wasserstofftanks überprüft, die unter Innendruck bis zum Versagen zyklisch beansprucht werden. Dabei untersuchen die Forscherteams wie viele Sensoren für die Strukturüberwachung erforderlich sind, an welchen Positionen und mit welchen Klebstoffen diese optimalerweise am Wasserstofftank angebracht werden müssen. Abschließend wird ein Versuchsfahrzeug mit Sensorik und On-Board-Strukturüberwachung ausgerüstet und durch die Kombination von virtuellem Crash und realem Prüfaufbau validiert. Ziel der Projektpartner ist es, das Komplettsystem als zukünftige serienmäßige Zustandsüberwachung zu ertüchtigen.

Externer Link: www.fraunhofer.de

Damit der Airbag sicher auslöst

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 01.08.2023

Über 358 000 Menschen kamen in Deutschland 2022 laut Statistischem Bundesamt bei Verkehrsunfällen zu Schaden. Oft verhindert ein Airbag dabei Schlimmeres. Während der Fahrt liegt er gut verborgen unter einer hochwertigen Kunststoff-Oberfläche, die große Teile des Cockpits überzieht: der Slush-Haut. Damit diese an den richtigen Stellen reißt, wenn der Airbag auslöst, wird sie nach der Produktion vorsichtig angeritzt. Doch Material und eingebrachte Sollrissstelle müssen optimal aufeinander abgestimmt sein, sodass der Airbag sich im Ernstfall voll entfalten kann. Um dies sicherzustellen, kommt zur Überprüfung der Slush-Häute nun nutzerfreundliche Spitzentechnologie zum Einsatz: Das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM in Kaiserslautern hat ein handgeführtes Terahertz-Messsystem entwickelt, mit dem eine individuelle und zerstörungsfreie Qualitätskontrolle von Slush-Häuten möglich ist.

Slush-Häute mit ihrer lederähnlichen Optik werden heute in vielen Fahrzeugen der Mittel- und Oberklasse eingesetzt, um Armaturen zu verkleiden. Sie zeichnen sich durch sehr flexibel gestaltbares Design und Haptik aus und überzeugen zusätzlich in Sicherheitsfragen. Ihr Name leitet sich von ihrem Herstellungsverfahren, dem Pulversintern (engl. powder slush oder slush moulding) ab. Dabei wird eine Negativ-Form aus Metall aufgeheizt, im nächsten Schritt mit Kunststoffpulver gefüllt und gedreht. Das Pulver beginnt zu schmelzen und haftet an; beim Abkühlen entsteht eine durchgängige Haut.

Um Gewicht und Material einzusparen und zugleich eine bessere Anhaftung auf dem Cockpit zu ermöglichen, hat die Antolin Straubing GmbH ein Zweischichtsystem für Slush-Häute entwickelt. Für das neue Produkt galt es, ein serienbegleitendes Prüfverfahren zu konzipieren, welches sicherstellt, dass der Airbag die Slush-Haut bei einem Verkehrsunfall sicher durchdringt und die Personen im Fahrzeug schützt.

Wie lässt sich jede einzelne Slush-Haut überprüfen?

Mit dieser Problemstellung trat der Automobilzulieferer an das Fraunhofer ITWM heran. Gemäß neuen Vorgaben sollten die zweischichtigen Slush-Häute nicht mehr nur stichprobenartig durch Analyse unter dem Mikroskop, sondern individuell und zugleich zerstörungsfrei kontrolliert werden. Die Expertise der Forschenden am Fraunhofer ITWM im Bereich der Dickenmessung von Mehrschichtlacken vor Augen nahm der Zulieferbetrieb Kontakt zur Abteilung Materialcharakterisierung und -prüfung auf. Seit mehreren Jahren arbeitet die Forschungsgruppe »Optische Terahertz-Messtechnik« unter Leitung von Dr. Daniel Molter am Einsatz von Terahertz-Technologien für die Industrie und erzielte dabei vielversprechende Resultate, indem sie etwa eine zuverlässige und schonende Prüfmethode für lackierte Oberflächen im Automobilbereich entwickelte. Nun stellte sich die Frage: Lässt sich Terahertz-Messtechnik auch für die ungleichmäßige Struktur von Slush-Häuten einsetzen, sodass die Dicke beider Schichten sicher bestimmt werden kann?

Schichtdickenmessung mit Terahertz-Technologie

Terahertz-Wellen sind elektromagnetische Wellen, die mit einer Länge von etwa 300 µm zwischen dem Mikrowellen- und dem Infrarotbereich liegen. »Die Terahertz-Technologie ist im Vergleich zur Technologie anderer Spektralbereiche vergleichsweise jung, und über die letzten Jahre hat sich die Schichtdickenmessung als einer der vielversprechendsten Anwendungsfälle herausgestellt«, beschreibt Daniel Molter das Arbeitsgebiet der Gruppe. »Dafür nutzen wir Femtosekundenlaser, deren Pulse wir mit einem photoleitenden Schalter in Terahertz-Pulse umwandeln. Damit entsteht ein kurzer elektromagnetischer Impuls. Dieser wird dann auf ein Mehrschichtsystem geschickt, und bei jedem Schichtübergang – z. B. von der Luft zum überprüften Material und dann zu einem Metall – entsteht ein Zwischenreflex. Der zeitliche Unterschied zwischen den Reflexen lässt Rückschlüsse auf die Dicke der einzelnen Schichten zu, wenn man deren optische Eigenschaften kennt.«

Bei Mehrschichtlacksystemen funktioniert die bisherige Auswertungstechnik der Signale zuverlässig, weil ihre Struktur homogen ist und Grenzschichten gut definiert sind. Um die ungleichmäßig aufgebauten und mit Luftblasen durchsetzen Schichten von Slush-Häuten vermessen zu können, mussten die Forschenden die bestehende Methodik weiterentwickeln. Anstatt die einzelnen Schichtantworten mathematisch zu modellieren, arbeiteten sie mit einer Reihe von Filteralgorithmen und der Dekonvolution (Entfaltung) von Signalen: Unter Kenntnis einer Eingangsgröße (einem Referenzsignal bzw. der Systemcharakteristik) und des Ergebnisses (Messergebnis) konnten sie die zweite Eingangsgröße – nämlich das Schichtmodell der vorliegenden Slush-Haut – berechnen.

Mobiles, handgehaltenes Messsystem

Damit die Messung direkt vor Ort nach der Produktion der Slush-Häute durchgeführt werden kann, hat die Projektgruppe das neue Messsystem als mobilen Rollwagen mit handgeführtem, 3D-gedrucktem Messkopf konzipiert. Neben einer eigens entwickelten Software verfügt es unter anderem über eine unterbrechungsfreie Stromversorgung, einen Touchscreen mit ausziehbarerer Tastatur sowie einen drahtlosen Barcode/QR-Scanner zur Produkterfassung und ist einfach zu bedienen. Zur Qualitätskontrolle einer fertig produzierten Slush-Haut wird der Messkopf an vorab definierten Punkten aufgesetzt. Bei erfolgreicher Messung ertönt ein akustisches Signal, und die Schichtdicken lassen sich auf einen Blick im Display ablesen.

Mit der erfolgreichen Entwicklung des Messystems für diesen sehr speziellen Anwendungsfall hat die Gruppe um Daniel Molter Pionierarbeit geleistet: »Trotz unserer bisherigen Erfahrung in der Schichtdickenmessung ist das Projekt einzigartig, da wir viele kundenspezifische Anforderungen adressieren mussten.« Zukünftig seien auch weitere Einsatzmöglichkeiten von der Messung anderer Kunststoffschichten im Autocockpit bis hin zur Prüfung von Rohr-Wandstärken vorstellbar. »Im Prinzip eignet sich das System überall dort, wo Wandstärken von etwa 10 µm bis hin zu wenigen Millimetern gemessen werden sollen und ein handgehaltenes System von Vorteil ist«, so Molter. Schon jetzt steht fest: Mit dem von ihnen entwickelten Terahertz-Prüfsystem leisten die Forschenden einen Beitrag für mehr Sicherheit und Nachhaltigkeit in der Automobilproduktion.

Externer Link: www.fraunhofer.de

Online-Prozesse – wenn der Avatar verhandelt

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 03.07.2023

Seit der Corona-Pandemie gehören Videokonferenzen in vielen Berufen zum Alltag. Auch Online-Gerichtsverhandlungen gewinnen weltweit immer mehr an Bedeutung. In großflächigen Staaten wie Kanada und Australien machen virtuelle Gerichtstermine schon seit längerem weite Anreisen überflüssig. Ein Forscherteam von Fraunhofer Austria entwickelt derzeit eine Software, die die digitalen Gerichtsprozesse auf eine neue Stufe heben soll: Virtuelle Avatare repräsentieren künftig die Prozessbeteiligten im Online-Gerichtssaal. Mimik und Augenbewegungen der Verhandelnden werden per Webcam erfasst und auf die Avatare übertragen. Auf diese Weise können alle miteinander in Blickkontakt treten, was eine persönlichere Kommunikation ermöglicht.

Online-Gerichtsverhandlungen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Seit der Corona-Krise arbeiten Gerichte zunehmend an der Einführung digitaler Gerichtsprozesse. Die Vorteile: Gerichtsverfahren können zügiger durchgeführt werden und lange Anreisen der Beteiligten entfallen. Neben dem flüssigeren und effizienteren Gerichtsbetrieb sprechen Kosten- und Zeitersparnisse für die virtuellen Prozesse. Kritiker hingegen verweisen auf die noch nicht ausgereifte, notwendige Technik und auf verfahrensrelevante Fragen: Wie lassen sich einwandfreie Video-Übertragungen gewährleisten? Wie kann der Prozess mit seinen detaillierten Verhaltensregeln ins Digitale übertragen werden? Diesen Fragestellungen widmen sich Forschende der Fraunhofer Austria Research GmbH. Unterstützt werden sie dabei unter anderem von Prof. David Tait, Forscher an der Western Sydney University. Mit dem Virtual Court-System entwickeln sie eine Software, mit der sich der Einsatz von Videotechnik in der Ziviljustiz optimieren und ausbauen lassen soll. Vorgesehen ist das Setting in virtuellen Gerichtssälen zunächst für kleinere Delikte wie Nachbarschaftsstreitigkeiten.

Während viele Videokonferenz-Anwendungen den Nutzern mittels VR-Brillen das Gefühl vermitteln, am selben Ort zu sein, setzen die Fraunhofer-Forschenden in diesem Projekt nicht auf VR. Vielmehr erfolgt die Bildausgabe über den Monitor. Die Prozessbeteiligten kommunizieren mit Hilfe von Avataren – 3D-Grafikfiguren, die die reale Person repräsentieren – im virtuellen Raum. Vor dem Start der Verhandlung im virtuellen Gerichtssaal wählen die Beteiligten die für sie entsprechende Rollenspezifikation wie Richter, Verteidiger, Staatsanwalt, Zeuge oder Angeklagter. Eine Webcam nimmt das Gesicht auf. Mittels Eyetracking erfasst die Software, die auf einer 3D-Grafikengine aufsetzt, in welche Richtung der Anwender sieht. Dieser Blick wird in eine Kopfbewegung des Avatars umgesetzt – ein direkter Blickkontakt zwischen den Gesprächspartnern wird simuliert. Dieser Augenkontakt fehlt aktuell noch in Videokonferenzen via MS Teams oder Zoom.

Video-Konferenzen auf Augenhöhe

»Für die virtuellen Gerichtsverhandlungen mit unserem System ist keine komplizierte technische Ausrüstung erforderlich. Die Prozessbeteiligten setzen sich entweder in einem öffentlichen Gebäude, einer Polizeistation oder im Homeoffice vor den Laptop mit Webcam. Das ist ausreichend, um am Virtual Court teilzunehmen«, sagt Dr. Volker Settgast, Wissenschaftler im Geschäftsbereich Visual Computing bei Fraunhofer Austria in Graz. In der virtuellen Repräsentation des Gerichtssaals sehen sich alle Anwender und erkennen dank des Eyetrackings, wer sie gerade ansieht. Die Webcam erfasst nicht nur die Augenbewegungen, sondern auch die Mimik. »Da die Webcam Mundbewegung und Gesichtsausdruck aufnimmt, sind Rückschlüsse auf den Gemütszustand der Teilnehmenden möglich«, so Settgast. »Bei klassischen Videokonferenzen wird das Videobild übertragen, dies entfällt bei unserem System durch den Einsatz der Avatare. Lediglich der Audiostream und die aus dem Eyetracking und der Mimikerkennung resultierenden Daten werden übertragen. Der zu transferierende Datenstrom ist daher reduziert.«

Geplant ist, die virtuellen Gerichtssäle länderspezifisch anzupassen, auch die Avatar-Animation soll verbessert werden. Beispielsweise wollen Settgast und sein Team die Hände der Teilnehmenden in die Gestenerkennung integrieren. Künftig soll die Software auch im Browser laufen. Erste Workshops und Anwendertests der Betaversion fanden bereits am Visualization Research and Teaching Laboratory Harvard University, Department of Earth & Planetary Sciences und an der Université de Montréal’s Cyberjustice Laboratory statt. »Letztendlich wollen wir das Gerichtssetting komplett in den virtuellen Raum verlagern und Video-Konferenzen auf Augenhöhe für Zivilgerichte realisieren. Da Augenbewegungen, Mimik und Gestik erkennbar sind, können künftig Gerichtsprozesse mit persönlichem Charakter auch digital durchgeführt werden«, so der Forscher.

Diese Vorlaufforschung wurde im Rahmen einer Projektförderung des Österreichischen Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft gefördert.

Externer Link: www.fraunhofer.de

Erstklassiger Klang für jedes Ohr

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 01.06.2023

Ein Audio-Device zu entwickeln, das allen Menschen ein optimales Klangerlebnis bietet, ist nicht einfach. Die große Herausforderung liegt darin, dass jeder Mensch individuelle Hörpräferenzen hat. Daher hat der Institutsteil Hör-, Sprach- und Audiotechnologie HSA des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie IDMT adaptive Algorithmen sowie intuitive Verfahren zur Einstellung des persönlichen Klangs entwickelt. Mit einem Kunden konnte die Technologie nun auch in Kopfhörer integriert werden.

Jeder Mensch nimmt Klang anders wahr und hat seine eigenen, individuellen Hörvorlieben – auch unabhängig von Alter und Hörvermögen. Die Werkseinstellungen von Audiolösungen können dementsprechend nicht für jeden Hörenden gleichermaßen ansprechend sein. Auch die gängigen Einstellmöglichkeiten stoßen hier an ihre Grenzen. Der Oldenburger Institutsteil HSA des Fraunhofer IDMT hat ein Verfahren und Algorithmen entwickelt, um eine einfache und intuitive Einstellung der Klangvorlieben, abseits von komplexen und starren Equalizern, zu ermöglichen. Nutzerinnen und Nutzer wählen auf einer intuitiv bedienbaren Oberfläche entlang der Instrumentierung eines Beispielmusikstücks spielerisch den favorisierten Sound. Dazu fragt ein virtueller Assistent in wenigen Schritten nach Klangvorlieben für normale und leise Wiedergabelautstärken unterschiedlicher Instrumente. Einmal eingestellt, wirkt sich das Soundprofil positiv auf den Gesamtklang aus. Die Technologie kann sowohl in Geräte mit Audiowiedergabe wie Fernseher, Smartphones, Soundbars oder Infotainment-Systeme im Auto integriert werden, als auch auf Streaming- oder Medienplattformen.

Mehr als technisch perfekter Klang

Bei der Entwicklung der Klangpersonalisierung haben die Fraunhofer-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler insbesondere auf eine nutzerfreundliche Anwendung der Technologie geachtet. »Jeder Mensch hat eine persönliche Klangpräferenz. Gängige Einstellmöglichkeiten für Sound berücksichtigen nicht, wie sich das eigene Lautheitsempfinden auf diese Präferenzen auswirkt – oder sie wirken aufgrund ihrer Komplexität eher abschreckend auf Nutzerinnen und Nutzer und werden daher nicht genutzt. Diese Hürden haben wir reduziert, da unsere Technologie auch ohne Kenntnisse über Pegel und Frequenzen bedient werden kann und darauf abzielt, den individuell besten Klang bei jeder Wiedergabelautstärke herzustellen«, stellt Dr. Jan Rennies-Hochmuth, Gruppenleiter Persönliche Hörsysteme am Fraunhofer IDMT fest.

»Wir sind froh, die von uns auch als YourSound bezeichnete Technologie in der Produktkategorie Kopfhörer umgesetzt zu haben und damit einer breiteren Nutzerschaft zugänglich zu machen. Das technologische Konzept für die schnelle und individuelle Klanganpassung konnten wir zuvor erfolgreich für Multimedia-Systeme von Pkw adaptieren«, resümiert Dr. Jens-E. Appell, Institutsteilleitung Hör-, Sprach- und Audiotechnologie HSA.

Die Technologie zur Personalisierung des Klangs konnte mit der Sonova Holding AG nun erfolgreich in Consumer-Kopfhörer der Marke Sennheiser implementiert werden.

Hör-, Sprach- und Audiotechnologie HSA am Fraunhofer IDMT in Oldenburg

Der im Jahr 2008 unter der Leitung von Prof. Birger Kollmeier und Dr. Jens-E. Appell gegründete Institutsteil Hör-, Sprach- und Audiotechnologie HSA des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie IDMT steht für marktnahe Forschung und Entwicklung mit Schwerpunkten auf Sprach- und Ereigniserkennung, Klangqualität und Sprachverständlichkeit sowie mobile Neurotechnologie und Systeme für eine vernetzte Gesundheitsversorgung. Mit eigener Kompetenz in der Entwicklung von Hard- und Softwaresystemen für Audiosystemtechnologie und Signalverbesserung setzen die Mitarbeitenden am Standort Oldenburg wissenschaftliche Erkenntnisse in kundengerechte, praxisnahe Lösungen um. Über wissenschaftliche Kooperationen ist der Institutsteil eng mit der Carl von Ossietzky Universität, der Jade Hochschule und der Hochschule Emden/Leer verbunden. Das Fraunhofer IDMT ist Partner im Exzellenzcluster Hearing4all.

Externer Link: www.fraunhofer.de

Beschädigte Kakaobohnen für Kosmetikprodukte

Presseinformation (Forschung Kompakt) der Fraunhofer-Gesellschaft vom 02.05.2023

Kakao ist ein wichtiger Bestandteil der brasilianischen Landwirtschaft. Die Kakaofrucht ist jedoch anfällig für Pilzkrankheiten. Erst in den 1990er Jahren ließ eine Pilzepidemie die Produktion in dem südamerikanischen Land massiv einbrechen. Weltweit sorgt der Schädlingsbefall für Ernteverluste von bis zu 40 Prozent. In Zusammenarbeit mit der Universität Campinas, Brasilien, wollen Forschende des Fraunhofer-Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV im Projekt »Damaged Beans« neue Verwertungswege für die beschädigten Kakaofrüchte etablieren. Insbesondere für die Herstellung von Kosmetika könnten die von Pilzen befallenen, beschädigten Kakaobohnen einen wertvollen Rohstoff darstellen und potenziell gesundheitsschädliche Stoffe wie Acrylate und mineralölbasierte Rohstoffe ersetzen.

Eine wichtige Säule der Wirtschaft in Mittel- und Südamerika ist der Anbau von Kakao, der vor allem für die Herstellung von Schokolade verwendet wird. Der Kakaoanbau leidet jedoch schwer unter den Folgen der Pilzkrankheiten Hexenbesen und Black Pod Disease, die sich in den 1990er Jahren epidemisch verbreiteten und in Brasilien zu einem drastischen Einbruch der Kakaoproduktion führten. Trotz aller Bemühungen gibt es nach wie vor keinen Erfolg bei der Bekämpfung der Krankheiten. In der Schokoladenproduktion müssen beschädigte Kakaofrüchte daher weggeworfen werden.

Hier setzt das CORNET-Projekt (Collective Research Networking) »Damaged Beans« an. Ziel ist es, Verwertungspfade für kranke Kakaobohnen zu etablieren. Eingesetzt werden könnten die beschädigten Kakaofrüchte z. B. für die Herstellung von Produkten, wie Kosmetika, aber auch für Schmierstoffe und Reinigungsmittel. Das Fraunhofer IVV in Freising entwickelt daher im Projekt Damaged Beans gemeinsam mit der Universität Campinas spezifische Methoden, um unterschiedliche Pilzkontaminationen zu erkennen, zu klassifizieren und neue Anwendungen für minderwertige Kakaobohnen zu identifizieren. Dieser Ansatz hat das Potenzial, die gesamte Kakao-Wertschöpfungskette zu optimieren. Landwirte werden in der Lage sein, einen größeren Anteil ihrer Ernte zu vermarkten. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) fördert das vom Fraunhofer IVV koordinierte Vorhaben. Ein Konsortium aus 19 Industriepartnern begleitet das Projekt.

Kakaobutter kann Acrylate ersetzen

»Aus den Kakaobohnen wird Kakaopulver und Kakaobutter hergestellt. Kakaobutter hat aufgrund der durch die Pilzkrankheiten Hexenbesen und Black Pod Disease verursachten chemischen Veränderungen ein anderes Schmelzverhalten und ist daher bei Raum-/Körpertemperatur weicher. Für kosmetische Anwendungen kann das von Vorteil sein, vor allem für fetthaltige Naturkosmetika wie Lippenstifte, Bodylotions und Cremes«, erläutert Dominic Wimmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Fraunhofer IVV. Eine veränderte Zusammensetzung der Aminosäuren und Proteine erhöht die Gelier- und Verdickungseigenschaften. Das könnte die Zutaten aus beschädigten Kakaobohnen zu einem idealen Ersatz für gesundheitsschädliche Acrylate machen, die als Gelbildner bzw. Quellmittel in konventioneller Kosmetik eingesetzt werden, aber auf der Haut Allergien auslösen können.

Nachhaltigkeit in der Prozesskette

Doch um die von Pilzen beschädigten Kakaobohnen für einen Einsatz außerhalb der Lebensmittelindustrie zu erschließen, entwickelt die Universität Campinas zunächst Untersuchungsmethoden auf Grundlage von Nahinfrarotspektroskopie (NIR), um den Grad der Schädigung und die physikalisch-chemische Qualität der pilzbefallenen Kakaobohnen zu ermitteln. Anschließend etabliert das Fraunhofer IVV ein mehrstufiges Kaskadenextraktionsverfahren, um so nach der Fettabtrennung Kakaobutter, Proteine und sekundäre Pflanzenstoffe (SPS) wie Polyphenole für Anwendungen in der kosmetischen und chemischen Industrie zu gewinnen. Dabei werden Proteine und sekundäre Pflanzenstoffe mit Hilfe verschiedener Lösungsmittel extrahiert. »Aufgrund des Pilzbefalls sind die Inhaltsstoffe und die sensorischen Eigenschaften der Proteine und der SPS verändert. Neben Kakaobutter eignen sie sich aber trotz ihrer divergenten Struktur ggf. für technische Anwendungen wie biobasierte Reinigungs- und Desinfektionsmittel sowie Schmierstoffe und bieten die Möglichkeit im Sinne der Nachhaltigkeit, mineralölbasierte Ressourcen durch natürliche Inhaltsstoffe zu ersetzen«, so der Forscher.

Um an die wertvollen Inhaltsstoffe der Kakaobohnen zu kommen, sind teils aufwendige Verfahren nötig. Daher prüfen Wimmer und sein Team, inwieweit man im Extraktionsverfahren auf zeit- und energieintensive Fermentations- und Trocknungsprozesse oder die Röstung verzichten kann, wenn das Endprodukt nicht in Lebensmitteln zum Einsatz kommen soll.

Zudem will das Forschendenteam die Kakaobutter nicht durch Abpressen in einer Fettpresse gewinnen, sondern mithilfe von organischen Lösemitteln wie etwa Ethanol und überkritischem CO2 extrahieren – eine besonders schonende Methode. Um Proteine und SPS zu gewinnen, werden die festen Bestandteile mit wässrigen Extraktionen behandelt. Durch Variation von Druck und Temperatur kann die Löslichkeit auf die gewünschten sekundären Pflanzeninhaltsstoffe und Proteine eingestellt und somit eine spezifische Extraktion erreicht werden.

Bessere Lebensgrundlage für kleine Farmen

»Durch unser Kaskadenextraktionsverfahren können beschädigte Bohnen weiterverarbeitet werden; den betroffenen Farmen erschließen sich neue Wertschöpfungswege mit großem finanziellen Potenzial. Weltweit sind 40 bis 50 Millionen Menschen in der Kakaoproduktion beschäftigt, 80 bis 90 Prozent davon in kleinen Betrieben«, resümiert Wimmer. »Darüber hinaus stehen der Schokoladenindustrie dadurch mehr reine lebensmitteltaugliche Rohstoffe zur Verfügung«.

Externer Link: www.fraunhofer.de