Dunkelheit macht Makro-Quanteneffekte sichtbar

Medieninformation der Universität Innsbruck vom 10.01.2024

Wie man eine winzige Glasperle dazu bringt, makroskopische Quanteneffekte zu zeigen

Schnell sein, Licht vermeiden und über eine kurvenreiche Rampe rollen: Das ist das Rezept für ein bahnbrechendes Experiment, das Innsbrucker Physiker in einem kürzlich in Physical Review Letters veröffentlichten Artikel vorschlagen. Damit soll ein Nanoteilchen, das sich in einem durch elektrostatische oder magnetische Kräfte erzeugten Potenzial bewegt, rasch und zuverlässig in einen makroskopischen Überlagerungszustand gebracht werden.

Die Grenze zwischen der Alltagswelt und der Quantenwelt ist noch immer unklar. Wird ein Teilchen durch Abkühlung auf den absoluten Nullpunkt zu einem Quantenobjekt, ist es umso stärker lokalisiert, je massiver es ist. Forscher unter der Leitung von Oriol Romero-Isart vom Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Institut für Theoretische Physik der Universität Innsbruck schlagen ein Experiment vor, bei dem sich ein mit Laserlicht im Schweben gehaltenes Nanoteilchen, das auf seinen Grundzustand abgekühlt ist, einem nicht-optischen („dunklen“) Potenzial ausgesetzt wird, das durch elektrostatische oder magnetische Kräfte erzeugt wird. Die Forscher erwarten, dass dieses dunkle Potential rasch und zuverlässig einen makroskopischen Quantenüberlagerungszustand erzeugen wird.

Die Bewegung eines winzigen Glaskügelchen kann mittels Laserlicht auf seinen Grundzustand abgekühlt werden. Allein gelassen, von Luftmolekülen und einfallendem Licht bombardiert, heizen sich solche Glasperlen rasch auf und verlassen das Quantenregime, was jede Quantenkontrolle stark beschränkt. Um dies zu vermeiden, schlagen die Forscher um Oriol Romero-Isart vor, das Glaskügelchen im Dunkeln, bei ausgeschaltetem Licht, mit einem durch ungleichmäßige elektrostatische oder magnetische Kräfte gesteuerten Potential zu kontrollieren. Diese Methode ist nicht nur schnell genug, um eine Erwärmung durch streunende Gasmoleküle zu verhindern, sondern hebt auch die extreme Lokalisierung auf und sollte die Quanteneigenschaften eindeutig sichtbar machen.

In dem kürzlich in Physical Review Letters erschienenen Artikel wird auch diskutiert, wie dieser Vorschlag die praktischen Herausforderungen dieser Art von Experimenten umgeht. Zu diesen Herausforderungen gehören die Notwendigkeit schneller Versuchsdurchläufe, der minimale Einsatz von Laserlicht zur Vermeidung von Dekohärenz und die Möglichkeit, Versuchsdurchläufe mit demselben Teilchen rasch zu wiederholen. Diese Überlegungen sind entscheidend, um die Auswirkungen von niederfrequentem Rauschen und anderen systematischen Fehlern abzuschwächen.

Dieser Vorschlag wurde ausführlich mit den experimentellen Partnern von Q-Xtreme, einem von der Europäischen Union finanzierten ERC-Synergy-Grant-Projekt, diskutiert. „Die vorgeschlagene Methode orientiert sich an den aktuellen Entwicklungen in ihren Labors und sie sollten bald in der Lage sein, unser Protokoll mit ungekühlten Teilchen im klassischen Bereich zu testen, was sehr nützlich sein wird, um Rauschquellen zu messen und zu minimieren, wenn die Laser ausgeschaltet sind“, sagt das Theorie-Team um Oriol Romero-Isart. „Dieses Quantenexperiment stellt zwar eine sehr große Herausforderung dar. Wir glauben aber, dass es machbar sein sollte, da unser Vorschlag alle notwendigen Kriterien für die Erzeugung dieser makroskopischen Quantenüberlagerungszustände erfüllt.“

Originalpublikation:
Macroscopic Quantum Superpositions via Dynamics in a Wide Double-Well Potential. M. Roda-Llordes, A. Riera-Campeny, D. Candoli, P. T. Grochowski, and O. Romero-Isart. Phys. Rev. Lett. 132, 023601

Externer Link: www.uibk.ac.at

ETH-Spin-offs – so viele gab es noch nie in einem Jahr

Medienmitteilung der ETH Zürich vom 08.01.2024

Im vergangenen Jahr wurden an der ETH Zürich 43 Spin-​offs gegründet, ein neuer Rekord. Dabei entstanden besonders viele Jungfirmen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und Biotechnologie. Zudem werden immer mehr ETH-​Spin-offs von Frauen ins Leben gerufen.

43 neue Gründungen ist eine ausserordentlich hohe Zahl – mit der die ETH Zürich im europäischen Vergleich besonders gut abschneidet. Ein Forschungsbereich, den die ETH intensiv ausbaut, spiegelt sich auch in den Firmengründungen wider: die Künstliche Intelligenz. Von den 43 gegründeten Spin-​offs weisen zwölf einen klaren Bezug zur KI auf. Beispielsweise Quazel, eine App, die KI für das Sprachenlernen einsetzt. Mithilfe eines KI-​Agenten können Lernende Gespräche zu beliebigen Themen führen, während die KI dynamisch auf alles reagiert, was gesagt wird. Auch das junge Team von BreezeLabs setzt eine KI-​Software ein. Diese misst über das eingebaute Mikrofon in Standard-​Kopfhörern die Atemfrequenz. Dadurch können während körperlicher Aktivität personalisierte und zielgerichtete Trainingsempfehlungen gegeben werden.

Neben KI ist die ETH traditionell sehr stark in der Biotechnologie und Pharmazie. Dieser Bereich macht den grössten Anteil der neugegründeten Spin-​offs im Jahr 2023 aus. Ein Beispiel ist das Biotech-​Spin-off ATLyphe. Ihr Ziel ist es, die Chemotherapie durch antikörperbasierte Therapien zu ersetzen, um die hämatopoetische Stammzellentransplantation potenziell sicherer und effektiver zu gestalten.

Immer mehr Gründerinnen

Der Anteil von Gründerinnen bei den ETH-​Spin-offs ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. In konkreten Zahlen bedeutet das – 2023 wurden elf Firmen an der ETH von Frauen mitgegründet. Dies freut Vanessa Wood, Vizepräsidentin für Wissenstransfer und Wirtschaftsbeziehung an der ETH Zürich: «Dass wir immer mehr Frauen dazu begeistern können, Unternehmerinnen zu werden, erfüllt mich nicht nur persönlich mit Freude, sondern ist auch für die Schweizer Wirtschaft und die Gesellschaft wichtig.» Ein konkretes Beispiel dafür ist der Spin-​off apheros. CEO Julia Carpenter und ihr Team haben neuartige Metallschwämme erfunden, die Kühleigenschaften besitzen. Da die Kühlung von elektronischen Geräten oft energieintensiv ist, bieten die Schwämme von apheros mit ihrer grossen Oberfläche und hohen Leitfähigkeit eine effiziente Kühllösung.

Viele Investitionen

Ein besonderes Jahr war es auch in Bezug auf Grants, welche ETH-​Spin-offs erhielten. 2023 flossen 47 Millionen Schweizer Franken in ETH-​Spin-offs, ohne dass dabei die bestehenden Anteile der aktuellen Eigentümer verwässert wurden. Zudem gab es einige beträchtliche Investitionsrunden. Zum Beispiel schloss das Spin-​off GetYourGuide, eine Online-​Plattform für Reiseaktivitäten, eine neue Finanzierungsrunde von über 70 Millionen Franken ab. Das Spin-​off ANYbotics, das autonome Roboter für Inspektionen anbietet, erhielt 50 Millionen Franken. Ebenso profitierten die beiden Drohnen-​Technologie-Firmen Verity und Wingtra von Fördergeldern. Verity erhielt 40 Millionen für ihre selbstfliegenden Inventurdrohnen, während Wingtra 20 Millionen Franken für ihre Drohnen erhielt, die für kartografische und geodätische Anwendungen eingesetzt werden. Mit Memo Therapeutics hat ein Biotechnologie-​Unternehmen eine Finanzierungsrunde von 25 Millionen Schweizer Franken abschliessen können, für die Forschung an therapeutischen Antikörpern zur Behandlung von Infektionskrankheiten.

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Wohin mit all dem Kohlendioxid?

Medienmitteilung der ETH Zürich vom 06.12.2023

CO2 aus der Atmosphäre abzuscheiden und in recycliertem Beton oder in Gestein in Island zu speichern, ist machbar und weist eine positive Klimabilanz auf. Dies zeigen die Ergebnisse eines Pilotprojekts unter Leitung der ETH Zürich im Auftrag des Bundes.

Die Schweiz hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Bis 2050 will sie ihre Treibhausgasemissionen auf null reduzieren. Mit einem massiven Ausbau erneuerbarer Energien und Einsparungen allein ist es allerdings nicht getan. Der Bund geht davon aus, dass jährlich 12 Millionen Tonnen CO2 anfallen, die schwierig zu vermeiden sind – so zum Beispiel Emissionen von Kehrichtverbrennungsanlagen. Ein Teil des ausgestossenen CO2 muss also wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Nur wie? Und wohin damit?

Zwei unterschiedliche Speichermöglichkeiten erprobt

Diesen Fragen ist ein Konsortium aus Wissenschaft und Industrie unter der Leitung der ETH Zürich im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE) und des Bundesamts für Umwelt (BAFU) nachgegangen. Die Forschenden haben zwei Wege untersucht, wie CO2 dauerhaft gespeichert werden kann: 1. Mineralisierung in rezykliertem Abbruchbeton, der in der Schweiz hergestellt wird und 2. Mineralisierung in einem geologischen Reservoir in Island.

Durchgespielt wurde das Ganze mit Emissionen aus einer Biogasaufbereitungsanlage in Bern. Dabei untersuchten die Forschenden anhand einer Lebenszyklusanalyse die gesamte Kette – von der Abscheidung und Verflüssigung des CO2 am Ort des Entstehens, über den Transport bis hin zur Speicherung. Sie berechneten auch, wie viel neues CO2 entlang der Kette anfällt. Für eine Kehrichtverbrennungsanlage und eine Zementanlage wurden zudem unterschiedliche Lösungen für Abscheidungsverfahren und -​anlagen geprüft.

Schon heute eine positive Klimabilanz

Es zeigte sich: Beide Wege sind technisch umsetzbar und weisen eine positive Klimabilanz aus. So überstieg in allen untersuchten Beispielen die Menge des CO2, das gespeichert werden konnte, die Menge an entlang der Transportkette ausgestossenem CO2. Beim Speichern in rezykliertem Abbruchbeton liegt der Wirkungsgrad und damit das Verhältnis zwischen gespeicherten und dadurch neu anfallenden Emissionen bei 90 Prozent; beim Transport von Schweizer CO2 und der anschliessenden Speicherung in isländischem Gestein bei etwa 80 Prozent. Diese Bilanz dürfte sich zukünftig weiter verbessern, entfällt der grösste Teil der neuangefallenen Emissionen auf den Transport der Container per Bahn und Schiff, die heute zum Teil noch mit Energie aus Kohlekraft und fossilen Brennstoffen betrieben werden. Wird zukünftig in grossem Massstab CO2 exportiert, wäre auch der Transport von CO2 in einer Pipeline eine Möglichkeit.

Überrascht wurden die Forschenden hingegen von den regulatorischen Schwierigkeiten, die ihnen beim Transport von CO2 durch mehrere Länder bis nach Island begegneten. Es war das erste Mal, dass grenzüberschreitend CO2 zur Speicherung transportiert wurde. «In der Nahrungsmittelindustrie wird viel CO2 benötigt und kann gelabelt als Chemikalie ohne Probleme transnational transportiert werden. Ist es aber ‘Abfall’ wie in unserem Fall, fehlt es an den entsprechenden Regulierungen», erläutert Marco Mazzotti, Projektkoordinator und ETH-​Professor. Das Projektteam kommt daher zum Schluss: Will die Schweiz CO2 im grösseren Massstab speichern und Anreize für Unternehmen schaffen, müssen gemeinsam mit den europäischen Nachbarn klare Regulierungen geschaffen werden.

Zahlreiche Forschungsfragen noch offen

Auch wenn die im Projekt erprobten Technologien funktionieren, ist der Forschungsbedarf im Bereich CO2-​Management noch gross; zudem muss sichergestellt werden, dass die Technologien auch ihren Weg in die Wirtschaft finden. In der 2023 gemeinsam mit Partnern aus Politik, Wissenschaft und Industrie lancierten «Coalition for Green Energy and Storage», will die ETH Zürich unter anderem bestehende Technologien zur CO2-​Abscheidung, zur Produktion von kohlenstoffneutralen Gasen und Treibstoffen, und zur CO2-​Speicherung rasch implementieren und industriell einsetzbar machen.

Eine weitere Frage, die ETH-​Forschende umtreibt, ist, ob sich CO2 auch im hiesigen Boden speichern liesse. Ein allfälliger Injektionstest in einem von der nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nicht mehr benötigten Bohrloch in Trüllikon könnte erste Antworten liefern.

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Klimahack für die Stahlindustrie: Neues Verfahren macht Roheisenherstellung nachhaltiger

Presseinformation des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) vom 14.12.2023

Forschende des KIT und Partner demonstrieren ein Verfahren, das den Ausstoß von Treibhausgasen bei der konventionellen Stahlproduktion deutlich reduziert

Mehrere hundert Millionen Tonnen CO2 pro Jahr in der weltweiten Stahlproduktion einsparen – das wollen Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Industriepartner SMS group mit einem neuen Verfahren vorantreiben. Dieses basiert auf der Modernisierung bestehender Hochofentechnologie mit moderaten Investitionen und wurde bereits erfolgreich in einer Pilotanlage demonstriert. Die Forschenden berichten in der Fachzeitschrift Energy Advances.

Rund acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen gehen auf das Konto der Stahlindustrie. „Das muss sich ändern – und zwar schnell“, sagt Professor Olaf Deutschmann vom Institut für Technische Chemie und Polymerchemie (ITCP) des KIT. Langfristig gebe es dank neuer Wasserstofftechnologien zwar eine klimaneutrale Perspektive, doch bis dafür weltweit ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung stehe und neu gebaute Anlagen in Betrieb gingen, vergingen noch einige Jahre: „In der Klimakrise haben wir dafür keine Zeit, wir müssen schon jetzt gegensteuern.“ Schnell einen deutlichen Effekt auch in konventionellen Anlagen erzielen ließe sich mit einem neuen Verfahren, das seine Forschungsgruppe gemeinsam mit dem Industriepartner SMS group mit Paul Wurth Entwicklungen und dem Start-up omegadot aus dem KIT demonstriert hat. „Das Potenzial ist enorm. Wir erwarten, dass sich durch die Nachrüstung bestehender Hochöfen bei moderaten Investitionskosten etwa zwei bis vier Prozent der weltweiten direkten CO2-Emissionen einsparen lassen“, so Deutschmann.

Neues Verfahren reduziert Emissionen und spart Energie

Das neue Verfahren setzt beim Rohstoff Eisen an, den die Stahlwerke meist direkt aus Bergbauerzen gewinnen, in denen er in oxidierter Form vorliegt. Üblicherweise erfolgt die Reduktion, also das Entfernen des Sauerstoffs, mithilfe von Koks im Hochofen. Dieser liefert nicht nur als Brennstoff die notwendige Energie für die Schmelze, sondern dient gleichzeitig auch als Reduktionsmittel für die chemische Reaktion. „Koks wird speziell für diesen Zweck in einem energieintensiven Prozess aus fossiler Kohle gewonnen“, sagt Philipp Blanck vom ITCP, der eng mit SMS group an der im Stahlwerk integrierten Pilotanlage zusammengearbeitet hat. „In unserem Verfahren recyceln wir CO2 aus dem Hochofengas mit Kokereigas, um ein Synthesegas mit hohem Wasserstoffanteil zu produzieren, das als Koksersatz im Hochofen genutzt werden kann.“

Um eine bestehende Anlage nachzurüsten, müssen vorhandene Heißwinderzeuger, auch Cowper genannt, modifiziert werden. In diesen Cowpern werden dann Methan und CO2 aus dem Kokereigas zusammen mit CO2 aus dem Hochofengas zu Synthesegas, einem Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, umgesetzt. Dieser Prozess, die sogenannte Trockenreformierung, erfordert eine hohe Temperatur, die zum großen Teil aus der Prozesswärme des Hochofens gewonnen wird. Das Synthesegas wird anschließend in den Hochofen eingeblasen und unterstützt dort die Reduktion des Eisenoxids. „Pro Tonne erzeugtem Stahl können so signifikante Mengen an Koks eingespart werden, was wiederum die spezifischen CO2-Emissionen um bis zu zwölf Prozent senkt“, so Blanck.

Erfolgreiche Demonstration mit Industriepartnern

Demonstration und Validierung des Verfahrens erfolgten bei der Aktien-Gesellschaft der Dillinger Hüttenwerke (Dillinger) im Saarland. Der Transfer wurde auch durch die Zusammenarbeit mit der omegadot software & consulting GmbH, einer Ausgründung aus dem KIT, ermöglicht. Das auf Industriesoftware spezialisierte Start-up entwickelt eine Software, die eine präzise Simulation und Visualisierung des Verfahrens ermöglicht und das Scale-up hin zu einer Industrieanlage maßgeblich unterstützt.

Die Pilotanlage wird von SMS group gemeinsam mit den Partnern Dillinger und Saarstahl, die Stahl mit weniger CO2-Emissionen produzieren wollen, in Dillingen betrieben. „Es ist wichtig zu betonen, dass die Integration des neuen Verfahrens in das Werk nur ein erster Schritt in der Transformation der Stahlindustrie sein wird“, sagt Gilles Kass aus der Forschungsabteilung bei SMS group, der ebenfalls an dem Artikel mitgearbeitet hat. (mhe)

Originalpublikation:
Philipp Blanck, Gilles Kass, Klaus Peter Kinzel, Olaf Deutschmann: Dry reforming of steelworks off-gases in a pilot plant integrated into a steel mill: influence of operating parameters; Energy Advances, 2023. DOI: 10.1039/d3ya00227f

Externer Link: www.kit.edu

Ein Antibiotikum auf Zeitreise

Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 30.11.2023

Forschungsteam der Universität Tübingen dreht die Evolution einer bakterientötenden Stoffklasse mithilfe von Computertechnik zurück – Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Medikamente

In der modernen Medizin nehmen Antibiotika eine zentrale Rolle bei der Behandlung von bakteriellen Infektionen ein. In der Natur werden sie von Bakterien oder Pilzen hergestellt, die sie selbst ebenfalls zur Abwehr anderer Bakterien nutzen. Anhand einer Gruppe der Glykopeptid-Antibiotika, die wie Teicoplanin und Vancomycin in der Medizin eine wertvolle Reserve gegen vielfach resistente Krankheitserreger bilden, hat ein Forschungsteam die Evolution dieser Stoffklasse untersucht und ein hypothetisches Urantibiotikum rekonstruiert. Dr. Demi Iftime und Dr. Martina Adamek führten das interdisziplinäre Projekt unter Leitung von Professorin Evi Stegmann und Professorin Nadine Ziemert vom Exzellenzcluster „Kontrolle von Mikroorganismen zur Bekämpfung von Infektionen“ der Universität Tübingen durch, unterstützt von Professor Max Cryle und Dr. Mathias Hansen von der Monash University in Australien.

Die Forscherinnen und Forscher ermittelten mithilfe bioinformatischer Methoden, wie die chemische Zusammensetzung des Vorläufers heutiger Glykopeptid-Antibiotika ausgesehen haben könnte und wie dieser durch Evolution umgeformt wurde. Daraus gewinnen sie Erkenntnisse, wie heutige Antibiotika für die medizinische Nutzung weiterentwickelt werden könnten. Ihre Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Ermittlung eines Stammbaums

„Antibiotika sind ursprünglich vor allem die Produkte einer stetigen evolutionären Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Organismen, die jeweils versuchen, ihre Konkurrenten oder Gegner zu vernichten oder zumindest an der Ausbreitung zu hindern“, erklärt Evi Stegmann. In seiner Studie hat das Forschungsteam Teicoplanin und Vancomycin sowie eine Reihe von ähnlich strukturierten Antibiotika als Ausgangsstoffe herangezogen. Die Naturstoffe können jeweils aus bestimmten Bakterienstämmen isoliert werden. Wie der Name Glykopeptid-Antibiotika beschreibt, bestehen sie chemisch gesehen aus Aminosäuren und Zuckern. Sie lassen Bakterien absterben, indem sie deren Zellwandaufbau verhindern. In dieser Weise wirken Teicoplanin und Vancomycin auch gegen zahlreiche Krankheitserreger des Menschen.

In biologischen Verwandtschaftsanalysen werden meist verschiedene Arten in eine Baumstruktur gestellt, in der die Verzweigungen Auskunft über den Verwandtschaftsgrad geben. „Wir haben in ganz ähnlicher Weise die bekannten Glykopeptid-Antibiotika mit ihrer chemischen Struktur, kodiert über die Gencluster, die ihre Baupläne enthalten, in einen solchen Abstammungsbaum gesetzt“, sagt Ziemert. „Über Computeralgorithmen aus der Bioinformatik lässt sich sozusagen am Stamm des Baumes eine mutmaßliche Urform der Antibiotika errechnen.“ Diesen hypothetischen Vorläufer tauften sie Paleomycin. Das Forschungsteam baute die ermittelten Gene zusammen, welche die Biosynthese von Paleomycin bereits kodiert haben dürften, und ließ ein Bakterium den entsprechenden Stoff produzieren – tatsächlich hatte Paleomycin im Test antibiotische Wirkung. „Es war sehr aufregend, ein solch uraltes Molekül zu erschaffen, als würde man einen Dinosaurier oder ein Wollhaarmammut wieder zum Leben erwecken“, berichtet die Forscherin.

Vereinfachung der Struktur

„Als Ergebnis ist für uns zum einen interessant, dass nach den Berechnungen alle Glykopeptid-Antibiotika von einem einzelnen Vorläufer abstammen“, sagt Stegmann. „Zum anderen ergab sich, dass Paleomycin im Kern des Moleküls eine ähnlich komplexe Peptidstruktur aufweist wie Teicoplanin.“ Bei Vancomycin sei diese Kernstruktur demgegenüber vereinfacht. „Wir gehen davon aus, dass sich diese Vereinfachung erst in der jüngeren Evolution ergeben hat. Die Funktionsweise als Antibiotikum blieb jedoch mit dem gleichen Mechanismus erhalten“, sagt Ziemert. „Für die Bakterien, die solche Antibiotika bilden, können diese sehr nützlich sein. Doch handelt es sich um Stoffe mit einer aufwendigen chemischen Struktur, die das Bakterium viel Energie kosten. Eine Vereinfachung bei gleicher Funktion könnte einen evolutionären Vorteil bieten.“

Dem Stammbaum der verschiedenen Glykopeptid-Antibiotika stellten die Forscherinnen und Forscher einen Stammbaum der diese produzierenden Bakterienstämme gegenüber. Ausgehend von Paleomycin vollzogen sie die Veränderungen in der chemischen Struktur der Antibiotika – beziehungsweise die der unterliegenden Gencluster in den Bakterien – minutiös und Schritt für Schritt nach. Dabei stellten sie fest, welche Schlüsselschritte ungefähr gleichzeitig stattfinden müssen, um ein funktionelles Molekül entstehen zu lassen. Einige dieser Schritte konnten von den Wissenschaftlern in Australien im Labor biochemisch nachvollzogen werden. „Aus dieser Zeitreise erhielten wir tiefgehende Einblicke in die Evolution der Stoffwechselwege der Antibiotikaproduktion in den Bakterien und die Optimierungsstrategien der Natur, die zu den modernen Glykopeptid-Antibiotika führten“, sagt Ziemert. „Dadurch haben wir eine Grundlage, um diese wichtige Antibiotikagruppe mit technischen Methoden weiterzuentwickeln.“

Originalpublikation:
Mathias Hansen, Martina Adamek, Dumitrita Iftime, Daniel Petras, Frauke Schuseil, Stephanie Grond, Evi Stegmann, Max Cryle and Nadine Ziemert: Resurrecting Ancestral Antibiotics: Unveiling the Origins of Modern Lipid II Targeting Glycopeptides. Nature Communications

Externer Link: www.uni-tuebingen.de