Großrechner erobern die Evolutionsbiologie

Pressemitteilung der TU München vom 29.10.2009

Neuer Zweig im Stammbaum der Bilateria

Tiere, deren Organismus symmetrisch aufgebaut ist, werden dem Stammbaum der Bilateria zugerechnet, auch der Mensch gehört dazu. Doch wie haben sich die einzelnen Tierarten aus ihren Urformen entwickelt? Bisher scheiterte die Berechnung von Stammbäumen aus Erbgutsequenzen an der dafür notwendigen Rechenleistung. Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM) haben nun Programme entwickelt, die Supercomputer in die Lage versetzen, diese Berechnungen durchzuführen. Nun können sie einen ersten großen Erfolg vorweisen.

Seit die Analyse von Erbgut durch moderne biochemische Methoden kostengünstig möglich ist, träumen Forscher davon, über den Vergleich von Erbgutsequenzen die evolutionäre Entwicklung von Tierarten rekonstruieren zu können. Bereits bessere Laborcomputer können Genanalysen durchführen. Doch für die Analyse ganzer Stammbäume ist ihre Rechenleistung zu gering. Im Rahmen einer internationalen Forschungskooperation entwickelte eine Gruppe um Bioinformatiker Dr. Alexandros Stamatakis bestehende Software-Werkzeuge so weiter, dass die notwendigen Berechnungen nun auf Höchstleistungsrechnern durchgeführt werden können.

„Mit den in den Laboren verfügbaren Rechnern ist es nicht möglich, Stammbäume aus größeren Erbgutsequenzen zu berechnen, aber für Supercomputer waren die Rechenprogramme der Evolutionsbiologen nicht geeignet,“ erläutert Michael Ott, Doktorand im Team von Stamatakis. Höchstleistungsrechner wie der des Garchinger Leibniz-Rechenzentrums schöpfen ihre Rechenleistung aus einer Vielzahl parallel arbeitender Prozessoren. Stamatakis und sein Team erweiterten daher ein Analyseprogramm so, dass es die Rechenaufgaben nun auf viele Prozessoren verteilen und die Ergebnisse wieder zusammenfügen kann. Die TUM-Wissenschaftler haben damit ein Programm geschaffen, das Evolutionsbiologen auf der ganzen Welt frei zur Verfügung steht, um ihre Forschung voran zu treiben.

Als ersten Testkandidaten wählten Kollegen an der Brown University in Providence (USA) einen nur zwei Millimeter großen Wurm mit dem Namen Acoelomorpha aus. Seine evolutionären Wurzeln waren für die Wissenschaft bisher ein Rätsel. Am Ende der umfangreichen Analyse konnten die Forscher dem Wurm jedoch eine Heimat im Stammbaum der Tiere zuweisen – an der ersten Verzweigung innerhalb der Gruppe der Bilateria. „Acoelomorpha ist von uns so weit entfernt wie ein Tier der Bilateria es nur sein kann, aber es ist bilateral. Das konnten wir nun beweisen,“ sagt Professor Casey Dunn, Evolutionsbiologe der Brown University.

Zur Entwicklung ihres Programms nutzten Stamatakis und sein Team den Garchinger Höchstleistungsrechner. Die endgültige Rechnung für Acoelomorpha wurde auf einem BlueGene Rechner in den USA durchgeführt. Mit 2,25 Millionen Prozessorstunden war dies die aufwändigste je durchgeführte Stammbaumanalyse. Nun arbeiten die Wissenschaftler an noch umfangreicheren Berechnungen und der weiteren Optimierung der Software, so dass das große Ziel – Stammbaumanalysen mit vielen Organismen unter Verwendung kompletter Genome – immer näher rückt. Die Anwendung der Software ist dabei nicht auf den Stammbaum der Bilateria beschränkt, das Prinzip ist für alle Lebewesen anwendbar.

Auf deutscher Seite wurde das Projekt vom KONWIHR und von der DFG unterstützt. Die Rechnungen wurden im San Diego Supercomputing Center durchgeführt.

Originalpublikation:
Andreas Hejnol, Matthias Obst, Alexandros Stamatakis, Michael Ott, Greg W. Rouse, Gregory D. Edgecombe, Pedro Martinez, Jaume Baguñà, Xavier Bailly, Ulf Jondelius, Matthias Wiens, Werner E. G. Müller, Elaine Seaver, Ward C. Wheeler, Mark Q. Martindale, Gonzalo Giribet and Casey W. Dunn
Assessing the root of bilaterian animals with scalable phylogenomic methods
Proceedings of the Royal Society B, Online, 16. September 2009 DOI: 10.1098/rspb.2009.0896

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Sisyphos‘ Erbin – Sahara-Spinne rollt auch bergauf

Medieninformation der TU Berlin vom 26.10.2009

Bionik-Professor der TU Berlin macht außergewöhnliche Beobachtung in der Wüste

Wenn Professor Dr. Ingo Rechenberg von seiner alljährlichen Sahara-Tour zurückkehrt, dann hat er meist Interessantes zu berichten. In diesem Sommer hat er einen achtbeinigen „Sisyphos“ beobachtet: Eine ihm bereits bekannte Rad-Spinne trotzte souverän der Schwerkraft. „Wie der Held in der griechischen Mythologie einen Felsbrocken, so bewegte sie ihren massiven Körper rollend den Dünenberg aufwärts. Als die Steigung zu groß wurde, kippte sie nach hinten über und trudelte wieder bergab – um dann, wie Sisyphos, wieder von vorn zu beginnen“, berichtet der Bioniker an der Technischen Universität Berlin.

„Ich war 60 Tage vor Ort und habe in jeder Nacht meine Rad-Spinnen beobachtet. Man findet sie nachts auf ebenen Dünenfeldern. Ich habe 15 bis 20 von ihnen nach und nach gefangen, um sie im ersten Morgenlicht studieren zu können“, sagt Rechenberg. So hat er gemessen, dass sich die Gliederfüßer mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde auf ihren acht Beinen laufend fortbewegen. „Sobald sie jedoch anfangen zu rollen, sind sie doppelt so schnell“, berichtet er. Die Geschwindigkeitssteigerung ergibt sich dadurch, dass nach jeder Körperumdrehung eine 15 bis 20 Zentimeter lange Flugstrecke folgt. Die Rolltechnik setzen die Spinnen immer dann ein, wenn sie vor einer Gefahr flüchten.

„Selbstverständlich habe ich die Spinnen wieder frei gelassen, wenn sie ihre Schuldigkeit getan hatten“, sagt er. Die sensationelle Entdeckung machte Rechenberg zufällig: „Ich baute gerade meine Kamera an einem Hang auf, als die Spinne mir entwischte, indem sie den Hang hinaufrollte!“ Der Wissenschaftler war außer sich: „Ich rief sofort meinem Mitarbeiter Abdulah Regabi El Khyari zu, ob er das auch gesehen hätte“, berichtet Rechenberg. Der hatte. Grund genug zu untersuchen, ob der Zufall vielleicht eine Regel sein könnte. Andere Spinnen derselben Art zeigten das gleiche Verhalten. Bis zu 40 Prozent Steigung können die Spinnen bewältigen – je steiler die Düne, desto langsamer wird allerdings die Vorwärtsbewegung. „Man merkt ihnen dann die Anstrengung an“, sagt der Wissenschaftler.

Bereits im vergangenen Jahr entdeckte Ingo Rechenberg die für ihn noch unbekannte Art. Der Spinnenexperte Dr. Peter Jäger vom Senckenberg-Institut konnte nun aufklären: Es handelt sich um eine Cebrennus villosus, die bereits aus Algerien und Tunesien bekannt ist. Dass sich diese Art allerdings rollend fortbewegt, wurde bislang noch von keinem Biologen beschrieben. Sogenannte Rad-Spinnen sind nur in der südafrikanischen Namib-Wüste bekannt. Aber diese können nur passiv die Düne hinunterkullern. Das ungewöhnliche Verhalten der fast handtellergroßen Sahara-Rad-Spinne faszinierte den Forscher. Deshalb machte er sich auch in diesem Jahr wieder zu zwei bis drei Kilometer weiten Nachtwanderungen in der Wüste Erg Chebbi am Rande der Sahara in Marokko auf.

Mit Erfolg: Seine Filmaufnahmen der Achtbeiner werfen neue Fragen auf. Rechenberg ist ein Sahara-Kenner. Seit 25 Jahren fährt der Ingenieur in die Wüste, weil den Bionik-Experten extreme Lebensbedingungen interessieren. In ungewöhnlicher Umgebung findet der Forscher Lebewesen, die sich an eine extreme Umwelt auf besondere Art und Weise anpassen. Und diese Art der Anpassung lässt häufig kühne Ideen für innovative Produkte oder Anwendungen entstehen. So untersuchte Rechenberg in der Sahara Sandfische und Sandschleichen. Beides sind Echsen, deren Oberflächen so glatt sind, dass sie sich in den Dünen wie Fische im Wasser bewegen können. Wie man den außergewöhnlich geringen Reibungswiderstand der Schuppenhäute auf industrielle Anwendungen übertragen kann, hat den Forscher bereits ausgiebig beschäftigt.

Seit der Entdeckung „seiner“ Spinne, die er „Araneus rota“ nennt, treibt ihn die wissenschaftliche Neugierde in eine neue Richtung. „Im vergangenen Jahr hatte ich die Theorie, dass ausschließlich die vordersten Gliedmaßen für die Rollbewegung verantwortlich sind. Da hatte ich mich gründlich geirrt; die Beinbewegung ist viel, viel raffinierter“, weiß der Professor nach seinen neuesten Beobachtungen. Anhand der mitgebrachten Filmaufnahmen will er nun das Bewegungsmuster der Spinne genau studieren. Und wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann ein Transportvehikel, das – wie „Araneus rota“ – sowohl laufen als auch rollen kann. (apu)

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Zitternde Hände und ein molekularer Handschlag

Presseinformation der LMU München vom 23.10.2009

Neue Proteinstruktur beteiligt an erblicher Neurodegeneration

Das erst vor kurzem beschriebene Fragile X Tremor/Ataxie Syndrom (FXTAS) ist eine der häufigsten erblichen neurodegenerativen Krankheiten. Man geht davon aus, dass die Krankheit durch einen Mangel an dem Protein Pur-alpha ausgelöst wird, welches für die normale Nervenfunktion unerlässlich ist. Nun ist es Strukturbiologen um Dr. Dierk Niessing vom Helmholtz Zentrum München und dem Genzentrum der Ludwigs-Maximilians-Universtität (LMU) München gelungen, die Röntgenkristallstruktur von Pur-alpha zu entschlüsseln und somit Einblicke in die molekulare Funktionsweise dieses Proteins zu gewinnen. Daraus ergeben sich erste Ansatzpunkte zur Entwicklung einer Therapie. (PNAS Early Edition, 21. Oktober 2009)

Bei den meist männlichen FXTAS-Patienten treten die Symptome etwa ab dem 55. Lebensjahr auf. Dabei führt das sich fortschreitend verstärkende Nervenleiden zu einem Zittern der Hände (Tremor) und zu Gleichgewichtsstörung sowie Fallneigung beim Gehen (Ataxie). Häufig wird auch eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten und Demenz beobachtet.

Ursache des FXTAS ist eine Mutation im FMRP-Gen. Diese tritt ungefähr bei einem von 800 Männern auf. Dabei zeigen sich abnorm verlängerte Wiederholungen der Basensequenz CGG: Gesunde Menschen haben 5 bis 54 dieser Wiederholungen, FXTAS-Träger haben 55 bis 200. Bei einer weiteren Verlängerung mit über 200 Wiederholungen tritt schließlich das Fragile X -Syndrom (FXS) auf, welches nach dem Down-Syndrom die zweithäufigste Ursache erblicher geistiger Behinderung ist. FXTAS wird durch einen Mangel an dem Protein Pur-alpha ausgelöst: das Protein bindet an die CGG-Sequenzen der Boten-RNA (mRNA). Weil durch die abnorme Zahl der Wiederholungen viel mehr Pur-alpha gebunden wird. steht es nicht mehr für seine normale zelluläre Funktion zur Verfügung.

Wie die Forscher in der Online „Early Edition“ der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences USA“ (PNAS) jetzt berichten, besteht das Pur-alpha aus drei sich wiederholenden Einheiten, den PUR-Repeats. „Die Kristallstruktur von Pur-alpha ermöglicht ein tieferes Verständnis der Funktionsweise des Proteins und könnte zur Entwicklung einer Therapie gegen FXTAS beitragen“, sagt Dierk Niessing, der eine gemeinsam vom Helmholtz Zentrum München, der Helmholtz-Gemeinschaft und dem Genzentrum der LMU geförderte Nachwuchsgruppe leitet. „Derzeit ist nur eine Linderung der Symptome, aber keine Behandlung der Ursachen möglich.“

„Ein PUR-Repeat sieht wie eine Hand aus  – das aus vier Strängen bestehende Beta-Faltblatt entspricht den vier Fingern und die Alpha-Helix ähnelt einem Daumen“, erklärt Almut Graebsch aus der Arbeitsgruppe Niessing. Zwei PUR-Repeats binden dabei auf eine ganz bestimmte, einem molekularen Händedruck gleichende Weise aneinander und formen so eine funktionelle Einheit. Die Forscher ergänzten ihre Röntgenstrukturanalyse mit einer weiteren Technik, dem sogenannten Small Angle X-Ray Scattering, und fanden heraus, dass Pur-alpha Dimere bildet, also immer zwei Protein-Moleküle aneinander binden. Deren Entstehung verläuft wahrscheinlich über einen sehr ähnlichen molekularen Händedruck wie die Bindung der PUR-Repeats aneinander.

Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass die FXTAS-Symptome verschwinden, wenn zusätzliches Pur-alpha zugegeben wird. „Vielleicht ist FXTAS heilbar, wenn man die Bindung von Pur-alpha an die Wiederholungen der Wiederholungen der Basensequenz CGG der mRNA verhindern kann“, sagt Niessing. Erste Hinweise, welche Aminosäuren von Pur-alpha an der Bindung beteiligt sind, konnte die Arbeitsgruppe bereits durch Mutationsstudien finden. Im nächsten Schritt  wollen die Forscher im Detail aufklären, wie Pur-alpha an die RNA bindet. Mit diesem Wissen könnten die krank machenden Interaktionen verhindert werden. (HHZM)

Publikation:
„X-ray structure of Pur-alpha reveals a Whirly-like fold and an unusual nucleic-acid binding surface“;
Almut Graebsch, Stephane Roche, and Dierk Niessing;
PNAS online, 21. Oktober 2009
DOI:10.1073/pnas.0907990106

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Dem ultrafeinen Staub auf der Spur

Mediendienst der Fraunhofer-Gesellschaft vom Oktober 2009

Grenzwerte für Feinstaubemissionen richten sich nach dem Gesamtgewicht der Partikel. Aber besonders die leichten ultrafeinen Partikel sind gesundheitsschädlich. Ein neues Verfahren trennt sie nach Größe und bestimmt ihre Zusammensetzung – direkt am Ort der Entstehung.

Die Debatte um Feinstaubemissionen erhitzt seit Jahren die Gemüter. Vor allem Anwohner von Industrieanlagen fragen sich häufig: Wie schädlich ist das, was dort aus dem Schornstein aufsteigt? Anlass zur größten Sorge ist jedoch nicht immer das, was man sieht. Vielmehr bergen besonders die kleinen Feinstaubpartikel ein erhöhtes Gesundheitsrisiko, da sie leicht in den menschlichen Organismus eindringen. Die ultrafeinen Partikel sind jedoch nur schwer messbar, da sie lediglich einen Durchmesser von weniger als 100 Nanometern haben.

Forscher am Fraunhofer-Institut für Lasertechnik ILT in Aachen haben ein Verfahren etabliert, mit dem sie die Zusammensetzung solcher Partikel genau analysieren können. »Bisher richten sich die gesetzlichen Grenzwerte für Feinstaubemissionen nach dem Gesamtgewicht der Partikel«, sagt Dr. Cord Fricke-Begemann, Projektleiter am ILT. »Doch große Partikel sind viel schwerer als kleine. Mit Gewichtsmessungen kann man keinerlei Aussage darüber treffen, welche Menge an ultrafeinen Partikeln sich im Feinstaub befinden. Dabei sind diese oft gesundheitsschädlicher als die großen.«

Das Messverfahren der Forscher besteht aus zwei Schritten: Zunächst trennen sie die Partikel mit Hilfe eines Gasstroms nach Größenklassen und sammeln sie auf Filtern. Anschließend untersuchen sie deren Zusammensetzung mit der Laser-Emissionsspektroskopie. »So können wir bestimmen, welche schädlichen Schwer- und Übergangsmetalle sich im Feinstaub befinden, etwa Zink, und in welcher Partikelgröße sie sich besonders anreichern«, sagt Fricke-Begemann. Die Besonderheit der Methode: Sie liefert die Ergebnisse in weniger als 20 Minuten. Zudem erlaubt sie einen hohen Durchsatz und eine direkte Messung vor Ort – etwa in Stahlwerken. Dort lassen sich die Emissionswerte während der Produktion mit einer Weiterentwicklung des Verfahrens sogar »online«, also in Echtzeit, messen und überwachen. Dazu werden die Partikel ständig über ein Luftrohr eingesogen und analysiert.

Jede Industrieanlage produziert Feinstaubemissionen. Dabei hinterlässt jedes Verfahren einen charakteristischen »Fingerabdruck«, der etwas über die Zusammensetzung und Größenverteilung der Partikel verrät. Dank ihrer Messmethode können die Wissenschaftler die Luft in angrenzenden Wohnbereichen überprüfen und feststellen, woher die Partikel kommen. Und sie können helfen, Strategien zur Emissionsreduzierung für die untersuchten Anlagen zu erstellen.

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Navigationssystem für Innenräume

Presseinformation des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) vom 16.10.2009

Neue Technologie ermöglicht erstmals exakte Positionsbestimmung in Gebäuden

Satelliten-Navigationsgeräte erleichtern den Alltag, nur in Gebäuden stoßen sie an ihre Grenzen. Abhilfe schafft erstmals ein am Institut für Theoretische Elektrotechnik und Systemoptimierung (ITE) entwickeltes Navigationssystem. Das aus mehreren Sensoren bestehende Gerät ermöglicht Benutzern punktgenaue Orientierung in Gebäuden, gleichzeitig kann es diese exakt kartographieren. Künftig soll das System den Einsatz von Rettungskräften und Polizeieinheiten sicherer machen und Menschen mit Sehbehinderung als „Elektronischer Blindenhund“ zur Seite stehen.

Ob fest in Fahrzeugen verbaut oder in Smartphones integriert, Navigationsgeräte sind fester Bestandteil mobilen Lebens. „Was im Freien problemlos funktioniert, war in Innenräumen wegen fehlender Satellitenverbindungen bislang undenkbar“, sagt Professor Gert Trommer, Leiter des Instituts für Theoretische Elektrotechnik und Systemoptimierung (ITE). Den ITE-Wissenschaftlern Christian Ascher und Christoph Keßler ist es nun gelungen, diese „Navigation Gap“ in Gebäuden zu überwinden. Dazu kombinierten die beiden Doktoranden bereits am ITE entwickelte Lösungen zur multisensoriellen Navigation mit einem neuartigen Fußsensor und optischen Sensoren, die die in Innenräumen fehlende Satellitenortung ersetzen.

Herzstück des Personennavigationsgeräts ist eine Inertialsensorik, die Daten eines Kompass sowie Höhen-, Rotations- und Beschleunigungsmessers mit den Informationen des am Schuh befestigten Fußsensors zusammenführt. Letzterer kann als eine Art „dreidimensionaler Schrittmesser“, Bewegungen im Raum exakt nachvollziehen.

„Die Inertialsensorik arbeitet im Grunde wie unser Innenohr“, erklärt Trommer. Und wie der menschliche Gleichgewichtssinn ist auch das neu entwickelte Navigationssystem auf optische Rückmeldungen zur Orientierung angewiesen. Dafür verfügt das am Oberkörper befestigte Gerät über eine Kamera und einen 240 Grad abdeckenden Laserscanner, die Entfernungen zu Gegenständen, Wänden und anderen Hindernissen berechnen. Durch den kontinuierlichen Abgleich der Daten erfasst das Navigationssystem die Position des Benutzers mit einer Langzeitgenauigkeit von rund 30 Zentimetern. Außerdem ermöglicht es, detaillierte Karten des betretenen Gebäudes anzufertigen. Die Positionsangabe kann dann wahlweise auf einem tragbaren Display, dem Bildschirm einer Leitzentrale oder über ein Blindenschrift-Interface angezeigt werden.

Die Wissenschaftler erwarten vielfältige Einsatzmöglichkeiten für ihre Neuentwicklung. So könnte das Navigationsgerät künftig die Arbeit von Feuerwehr oder Technischem Hilfswerk sicherer machen. Es ermöglicht nicht nur die Orientierung beispielsweise bei Rauchentwicklung, sondern kann durch die Kartierungsfunktion auch den Weg aus unbekannten Gebäuden weisen. Auch Einsatzkräfte der Polizei könnten durch die exakte Positionsbestimmung gezielter koordiniert werden. Darüber hinaus eröffnet das Navigationsgerät für blinde oder sehbehinderte Menschen neue Perspektiven: Kombiniert mit einem Braille-Schrift-Interface bietet sich die Nutzung als „elektronischer Blindenhund“ an.

In den kommenden Monaten wollen die Forscher ihren Prototyp in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt Wiesbaden, dem Technischen Hilfswerk Mannheim und einer US-amerikanischen Blindenorganisation in der Praxis erproben und verbessern. Über Spezialanwendungen hinaus hat das ITE in Zukunft auch den Massenmarkt im Auge: „Dank ständig wachsender Rechenleistung mobiler Geräte und kostengünstigen Sensoren wird es möglich sein, das Fußgängernavi in handelsübliche Smartphones zu integrieren“, glaubt Trommer. Die Technik könnte schon in wenigen Jahren zu bezahlbaren Preisen beispielsweise die Orientierung in öffentlichen Gebäuden wie Bahnhöfen oder Tiefgaragen erleichtern. (jm)

Externer Link: www.kit.edu