Klimahack für die Stahlindustrie: Neues Verfahren macht Roheisenherstellung nachhaltiger

Presseinformation des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) vom 14.12.2023

Forschende des KIT und Partner demonstrieren ein Verfahren, das den Ausstoß von Treibhausgasen bei der konventionellen Stahlproduktion deutlich reduziert

Mehrere hundert Millionen Tonnen CO2 pro Jahr in der weltweiten Stahlproduktion einsparen – das wollen Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Industriepartner SMS group mit einem neuen Verfahren vorantreiben. Dieses basiert auf der Modernisierung bestehender Hochofentechnologie mit moderaten Investitionen und wurde bereits erfolgreich in einer Pilotanlage demonstriert. Die Forschenden berichten in der Fachzeitschrift Energy Advances.

Rund acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen gehen auf das Konto der Stahlindustrie. „Das muss sich ändern – und zwar schnell“, sagt Professor Olaf Deutschmann vom Institut für Technische Chemie und Polymerchemie (ITCP) des KIT. Langfristig gebe es dank neuer Wasserstofftechnologien zwar eine klimaneutrale Perspektive, doch bis dafür weltweit ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung stehe und neu gebaute Anlagen in Betrieb gingen, vergingen noch einige Jahre: „In der Klimakrise haben wir dafür keine Zeit, wir müssen schon jetzt gegensteuern.“ Schnell einen deutlichen Effekt auch in konventionellen Anlagen erzielen ließe sich mit einem neuen Verfahren, das seine Forschungsgruppe gemeinsam mit dem Industriepartner SMS group mit Paul Wurth Entwicklungen und dem Start-up omegadot aus dem KIT demonstriert hat. „Das Potenzial ist enorm. Wir erwarten, dass sich durch die Nachrüstung bestehender Hochöfen bei moderaten Investitionskosten etwa zwei bis vier Prozent der weltweiten direkten CO2-Emissionen einsparen lassen“, so Deutschmann.

Neues Verfahren reduziert Emissionen und spart Energie

Das neue Verfahren setzt beim Rohstoff Eisen an, den die Stahlwerke meist direkt aus Bergbauerzen gewinnen, in denen er in oxidierter Form vorliegt. Üblicherweise erfolgt die Reduktion, also das Entfernen des Sauerstoffs, mithilfe von Koks im Hochofen. Dieser liefert nicht nur als Brennstoff die notwendige Energie für die Schmelze, sondern dient gleichzeitig auch als Reduktionsmittel für die chemische Reaktion. „Koks wird speziell für diesen Zweck in einem energieintensiven Prozess aus fossiler Kohle gewonnen“, sagt Philipp Blanck vom ITCP, der eng mit SMS group an der im Stahlwerk integrierten Pilotanlage zusammengearbeitet hat. „In unserem Verfahren recyceln wir CO2 aus dem Hochofengas mit Kokereigas, um ein Synthesegas mit hohem Wasserstoffanteil zu produzieren, das als Koksersatz im Hochofen genutzt werden kann.“

Um eine bestehende Anlage nachzurüsten, müssen vorhandene Heißwinderzeuger, auch Cowper genannt, modifiziert werden. In diesen Cowpern werden dann Methan und CO2 aus dem Kokereigas zusammen mit CO2 aus dem Hochofengas zu Synthesegas, einem Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, umgesetzt. Dieser Prozess, die sogenannte Trockenreformierung, erfordert eine hohe Temperatur, die zum großen Teil aus der Prozesswärme des Hochofens gewonnen wird. Das Synthesegas wird anschließend in den Hochofen eingeblasen und unterstützt dort die Reduktion des Eisenoxids. „Pro Tonne erzeugtem Stahl können so signifikante Mengen an Koks eingespart werden, was wiederum die spezifischen CO2-Emissionen um bis zu zwölf Prozent senkt“, so Blanck.

Erfolgreiche Demonstration mit Industriepartnern

Demonstration und Validierung des Verfahrens erfolgten bei der Aktien-Gesellschaft der Dillinger Hüttenwerke (Dillinger) im Saarland. Der Transfer wurde auch durch die Zusammenarbeit mit der omegadot software & consulting GmbH, einer Ausgründung aus dem KIT, ermöglicht. Das auf Industriesoftware spezialisierte Start-up entwickelt eine Software, die eine präzise Simulation und Visualisierung des Verfahrens ermöglicht und das Scale-up hin zu einer Industrieanlage maßgeblich unterstützt.

Die Pilotanlage wird von SMS group gemeinsam mit den Partnern Dillinger und Saarstahl, die Stahl mit weniger CO2-Emissionen produzieren wollen, in Dillingen betrieben. „Es ist wichtig zu betonen, dass die Integration des neuen Verfahrens in das Werk nur ein erster Schritt in der Transformation der Stahlindustrie sein wird“, sagt Gilles Kass aus der Forschungsabteilung bei SMS group, der ebenfalls an dem Artikel mitgearbeitet hat. (mhe)

Originalpublikation:
Philipp Blanck, Gilles Kass, Klaus Peter Kinzel, Olaf Deutschmann: Dry reforming of steelworks off-gases in a pilot plant integrated into a steel mill: influence of operating parameters; Energy Advances, 2023. DOI: 10.1039/d3ya00227f

Externer Link: www.kit.edu

Ein Antibiotikum auf Zeitreise

Pressemitteilung der Universität Tübingen vom 30.11.2023

Forschungsteam der Universität Tübingen dreht die Evolution einer bakterientötenden Stoffklasse mithilfe von Computertechnik zurück – Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Medikamente

In der modernen Medizin nehmen Antibiotika eine zentrale Rolle bei der Behandlung von bakteriellen Infektionen ein. In der Natur werden sie von Bakterien oder Pilzen hergestellt, die sie selbst ebenfalls zur Abwehr anderer Bakterien nutzen. Anhand einer Gruppe der Glykopeptid-Antibiotika, die wie Teicoplanin und Vancomycin in der Medizin eine wertvolle Reserve gegen vielfach resistente Krankheitserreger bilden, hat ein Forschungsteam die Evolution dieser Stoffklasse untersucht und ein hypothetisches Urantibiotikum rekonstruiert. Dr. Demi Iftime und Dr. Martina Adamek führten das interdisziplinäre Projekt unter Leitung von Professorin Evi Stegmann und Professorin Nadine Ziemert vom Exzellenzcluster „Kontrolle von Mikroorganismen zur Bekämpfung von Infektionen“ der Universität Tübingen durch, unterstützt von Professor Max Cryle und Dr. Mathias Hansen von der Monash University in Australien.

Die Forscherinnen und Forscher ermittelten mithilfe bioinformatischer Methoden, wie die chemische Zusammensetzung des Vorläufers heutiger Glykopeptid-Antibiotika ausgesehen haben könnte und wie dieser durch Evolution umgeformt wurde. Daraus gewinnen sie Erkenntnisse, wie heutige Antibiotika für die medizinische Nutzung weiterentwickelt werden könnten. Ihre Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Ermittlung eines Stammbaums

„Antibiotika sind ursprünglich vor allem die Produkte einer stetigen evolutionären Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Organismen, die jeweils versuchen, ihre Konkurrenten oder Gegner zu vernichten oder zumindest an der Ausbreitung zu hindern“, erklärt Evi Stegmann. In seiner Studie hat das Forschungsteam Teicoplanin und Vancomycin sowie eine Reihe von ähnlich strukturierten Antibiotika als Ausgangsstoffe herangezogen. Die Naturstoffe können jeweils aus bestimmten Bakterienstämmen isoliert werden. Wie der Name Glykopeptid-Antibiotika beschreibt, bestehen sie chemisch gesehen aus Aminosäuren und Zuckern. Sie lassen Bakterien absterben, indem sie deren Zellwandaufbau verhindern. In dieser Weise wirken Teicoplanin und Vancomycin auch gegen zahlreiche Krankheitserreger des Menschen.

In biologischen Verwandtschaftsanalysen werden meist verschiedene Arten in eine Baumstruktur gestellt, in der die Verzweigungen Auskunft über den Verwandtschaftsgrad geben. „Wir haben in ganz ähnlicher Weise die bekannten Glykopeptid-Antibiotika mit ihrer chemischen Struktur, kodiert über die Gencluster, die ihre Baupläne enthalten, in einen solchen Abstammungsbaum gesetzt“, sagt Ziemert. „Über Computeralgorithmen aus der Bioinformatik lässt sich sozusagen am Stamm des Baumes eine mutmaßliche Urform der Antibiotika errechnen.“ Diesen hypothetischen Vorläufer tauften sie Paleomycin. Das Forschungsteam baute die ermittelten Gene zusammen, welche die Biosynthese von Paleomycin bereits kodiert haben dürften, und ließ ein Bakterium den entsprechenden Stoff produzieren – tatsächlich hatte Paleomycin im Test antibiotische Wirkung. „Es war sehr aufregend, ein solch uraltes Molekül zu erschaffen, als würde man einen Dinosaurier oder ein Wollhaarmammut wieder zum Leben erwecken“, berichtet die Forscherin.

Vereinfachung der Struktur

„Als Ergebnis ist für uns zum einen interessant, dass nach den Berechnungen alle Glykopeptid-Antibiotika von einem einzelnen Vorläufer abstammen“, sagt Stegmann. „Zum anderen ergab sich, dass Paleomycin im Kern des Moleküls eine ähnlich komplexe Peptidstruktur aufweist wie Teicoplanin.“ Bei Vancomycin sei diese Kernstruktur demgegenüber vereinfacht. „Wir gehen davon aus, dass sich diese Vereinfachung erst in der jüngeren Evolution ergeben hat. Die Funktionsweise als Antibiotikum blieb jedoch mit dem gleichen Mechanismus erhalten“, sagt Ziemert. „Für die Bakterien, die solche Antibiotika bilden, können diese sehr nützlich sein. Doch handelt es sich um Stoffe mit einer aufwendigen chemischen Struktur, die das Bakterium viel Energie kosten. Eine Vereinfachung bei gleicher Funktion könnte einen evolutionären Vorteil bieten.“

Dem Stammbaum der verschiedenen Glykopeptid-Antibiotika stellten die Forscherinnen und Forscher einen Stammbaum der diese produzierenden Bakterienstämme gegenüber. Ausgehend von Paleomycin vollzogen sie die Veränderungen in der chemischen Struktur der Antibiotika – beziehungsweise die der unterliegenden Gencluster in den Bakterien – minutiös und Schritt für Schritt nach. Dabei stellten sie fest, welche Schlüsselschritte ungefähr gleichzeitig stattfinden müssen, um ein funktionelles Molekül entstehen zu lassen. Einige dieser Schritte konnten von den Wissenschaftlern in Australien im Labor biochemisch nachvollzogen werden. „Aus dieser Zeitreise erhielten wir tiefgehende Einblicke in die Evolution der Stoffwechselwege der Antibiotikaproduktion in den Bakterien und die Optimierungsstrategien der Natur, die zu den modernen Glykopeptid-Antibiotika führten“, sagt Ziemert. „Dadurch haben wir eine Grundlage, um diese wichtige Antibiotikagruppe mit technischen Methoden weiterzuentwickeln.“

Originalpublikation:
Mathias Hansen, Martina Adamek, Dumitrita Iftime, Daniel Petras, Frauke Schuseil, Stephanie Grond, Evi Stegmann, Max Cryle and Nadine Ziemert: Resurrecting Ancestral Antibiotics: Unveiling the Origins of Modern Lipid II Targeting Glycopeptides. Nature Communications

Externer Link: www.uni-tuebingen.de

Vom Labor auf die Straße: Wie die TU Graz Fahrassistenzsysteme sicherer macht

Presseaussendung der TU Graz vom 27.11.2023

Im Christian Doppler Labor unter seiner Leitung hat Franz Wotawa mit Unternehmenspartner AVL Test- und Überwachungsverfahren entwickelt, die gängige Fahrassistenzsysteme sicherer machen.

Intelligenter Geschwindigkeitsassistent, Notbremsassistent, Notfall-Spurhalteassistent, Müdigkeitsassistent, Rückfahrassistent, Warnsystem bei nachlassender Konzentration oder Notbremslicht – ab Juli 2024 werden eine ganze Reihe von Sicherheits- und Fahrassistenzsystemen für alle Neuwagen in der Europäischen Union verpflichtend. Dass diese Systeme auch wie gewünscht funktionieren und wirklich für mehr Sicherheit sorgen, daran forscht seit Oktober 2017 das Christian Doppler Labor für Methoden der Qualitätssicherung von autonomen Cyber-Physikalischen Systemen an der TU Graz zusammen mit Unternehmenspartner AVL List GmbH. Dabei hat das Laborteam unter der Leitung von Franz Wotawa vom Institut für Softwaretechnologie der TU Graz mittels Grundlagenforschung neue Methoden entwickelt, um Fehlerquellen bei Fahrassistenzsystemen vorab auszuschließen und im laufenden Betrieb zu analysieren. AVL konnte darauf aufbauend selbst neue Methoden und Verfahren in das Portfolio im Bereich Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) aufnehmen.

Kleine Abweichungen mit großer Wirkung

Konkret mussten sich Franz Wotawa und sein Team unter anderem der Herausforderung stellen, dass schon geringfügige Abweichungen bei einem bestimmten Verkehrsszenario die Reaktion von Fahrassistenzsystemen deutlich beeinflussen können. Da die Systeme diese Abweichungen nicht erst im laufenden Betrieb erlernen sollen, wurde ein Verfahren zur automatisierten Generierung von Testfällen ausgehend von Ontologien entwickelt. Ontologien sind Beschreibungen der Umgebung, in der sich das Fahrzeug im jeweiligen Testfall befindet. Diese Beschreibungen enthalten etwa Informationen zum vorhandenen Straßennetz, Ampeln, Straßenschildern, anderen Fahrzeugen oder Fußgängern.

Für die Testfallgenerierung hat das Team ein suchbasiertes und ein kombinatorisches Testverfahren angepasst und darauf aufbauend eine algorithmusbasierte Verknüpfung der Ontologien mit einem Eingabe-Modell vorgenommen. So können automatisiert noch besser und umfangreicher Testszenarien abgeleitet und durchgespielt werden – unabhängig vom getesteten Assistenz- oder Sicherheitssystem. Beispielsweise gelang es damit, bei einem Notbremsassistenten während der Tests einige unentdeckte Fehler zu finden, die dann genauer analysiert werden konnten.

Blick auf Realbedingungen

Trotz der ausgeklügelten Testverfahren bleibt der Blick auf den laufenden Betrieb unerlässlich, da es dort immer zu unvorhergesehenen Situationen kommen kann. Hier vergleicht das Team gesammelte Auto-Sensordaten mit dem erwarteten Verhalten der Fahrzeuge und versucht dies mit formalisiertem Wissen über Objektbewegungen zu kombinieren. Der Fokus liegt dabei auf der Objekterkennung, um aus einer Sequenz von Bildern die Objektbewegung mittels logischer Ableitung zu formalisieren. Durch die Nachverfolgung der Objekte über mehrere Bildframes lassen sie sich als potenziell gefährlich oder ungefährlich klassifizieren und die geeigneten Maßnahmen ableiten – etwa ob ein Baum direkt angesteuert wird und ausgewichen werden muss oder die Fahrt doch daran vorbeigeht. Diese Erkenntnisse fließen in weiterer Folge in Updates der Assistenzsysteme ein. Zusätzlich können die Daten aus den Erfahrungen im Realbetrieb auch genutzt werden, um weitere Testfälle zu generieren.

Mit der Frame-für-Frame-Analyse in Kombination mit einem Logikmodell für räumliche Wahrnehmung können auch die Objekterkennung verbessert und so nicht durchgehend erkannte Objektbewegungen abgeleitet werden. Das ist etwa dann nützlich, wenn ein Objekt zwar für einige Frames sichtbar ist, aber aufgrund von Reflexionen oder eines Sensorfehlers für einen Frame nicht erkannt wird. Ein Assistenzsystem könnte dadurch denken, dass in diesem Bereich keine Gefahr mehr vorhanden ist. Dank des Logikmodells leitet die Software aber ab, dass das Objekt nach wie vor da sein muss, weil es nicht einfach so verschwinden kann.

Rascher Wissenstransfer in die Industrie

Für Franz Wotawa sind die bisher erreichten Ergebnisse des noch bis Ende September 2024 laufenden CD-Labors der Beleg dafür, dass die Verbindung von Grundlagenforschung mit konkreten Anwendungen durch den Unternehmenspartner viele Vorteile bietet. „Wir haben einen sehr direkten Austausch mit AVL, jede*r Doktorand*in arbeitet fünf bis zehn Stunden pro Woche auch im Unternehmen. Dadurch kennen wir die Problemstellungen aus der Industrie genau und können ausgehend davon Grundlagenforschung betreiben. Andererseits erfolgt der Wissenstransfer in die Industrie sehr rasch, weil die Mitarbeitenden direkten Zugang zur Infrastruktur von AVL haben. So konnten wir gemeinsam unsere Forschung im Bereich Sicherheit von autonomen cyberphysikalischen Systemen weit voranbringen“, erklärt Franz Wotawa.

Mihai Nica, Global Head ADAS, Automated Driving und Connectivity AVL, fügt hinzu: „In der sich rasant entwickelnden Welt des autonomen Fahrens setzt AVL auf innovative Testmethoden. Die Anwendung von AI-Gamification und ontologiebasierten Tests bietet die Möglichkeit, kritische Szenarien zu generieren und autonomes Fahren unter extremen und komplexen Bedingungen zu prüfen, die in der realen Welt nur schwer nachzubilden sind. Dies ist entscheidend, um die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Technologie zu gewährleisten, und trägt dazu bei, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu stärken. Dieses Vertrauen ist von entscheidender Bedeutung für die erfolgreiche Integration autonomer Fahrzeuge in unsere Verkehrsnetze der Zukunft.“ (Falko Schoklitsch)

Externer Link: www.tugraz.at

Zwei Dirigenten für eine chemische Reaktion

Presseaussendung der TU Wien vom 20.11.2023

Erstmals gelang es an der TU Wien, die Wirkungsweise sogenannter Promotoren einer katalytischen Reaktion in Echtzeit zu beobachten. Sie spielen in der Technik eine wichtige Rolle, galten aber bisher als wenig verstanden.

Katalysatoren braucht man für unzählige chemische Technologien – von der Abgasreinigung bis zur Herstellung wertvoller Chemikalien und Energieträger. Oft werden dabei auch noch winzige Spuren anderer Substanzen verwendet, die den Katalysator erst richtig effektiv machen. Man bezeichnet sie als „Promotoren“. Sie spielen in der Technik eine wichtige Rolle, sind aber notorisch schwer zu untersuchen.

Meist kann man nur durch Versuch und Irrtum herausfinden, welche Menge welcher Promotoren welche Wirkung hat. Nun gelang es an der TU Wien, die Rolle von Lanthan-Promotoren bei der Wasserstoff-Oxidation direkt zu beobachten. Die Rolle einzelner Lanthan-Atome wird mit High-Tech-Methoden sichtbar gemacht. Dabei zeigte sich: Zwei Oberflächenbereiche des Katalysators sind Taktgeber, ähnlich wie Dirigenten beim Orchester. Der Promotor spielt dabei eine entscheidende Rolle bei ihrer Interaktion – er steuert die Taktgeber. Das Ergebnis wurde nun im Fachjournal „Nature Communications“ publiziert.

Live bei der Reaktion zusehen

„Bei vielen chemischen Prozessen verwendet man Katalysatoren, die in Form winziger Nanopartikel vorliegen“, sagt Prof. Günther Rupprechter vom Institut für Materialchemie der TU Wien. Die Leistungsfähigkeit von Katalysatoren lässt sich leicht über Produktanalyse ermitteln, mikroskopische Einblicke gewinnt man dadurch aber nicht.

Das ist heute anders: Günther Rupprechter hat mit seinem Team über Jahre hinweg Methoden entwickelt, mit denen man sogar einzelne Nanopartikel direkt während der chemischen Reaktion beobachten kann. Dabei zeigt sich, wie sich die Aktivität an unterschiedlichen Stellen dieser Nanopartikel während des Reaktionsablaufs ändert.

„Wir verwenden Rhodium-Nanospitzen, die sich wie Nanopartikel verhalten“, sagt Günther Rupprechter. „Sie können zum Beispiel als Katalysator dienen, wenn man Wasserstoff und Sauerstoff zu Wassermolekülen vereint – das ist die Reaktion, die wir im Detail untersuchen.“

Pendeln zwischen „aktiv“ und „inaktiv“

Schon in den vergangenen Jahren fand das Team an der TU Wien heraus, dass unterschiedliche Abschnitte der Nanopartikel-Oberfläche unterschiedliches Verhalten zeigen: Sie oszillieren zwischen einem aktiven und einem inaktiven Zustand hin und her. Mal findet an einem bestimmten Punkt die gewünschte chemische Reaktion statt, dann wieder nicht.

Mit speziellen Mikroskopen konnte man nachweisen: Auf jedem Nanopartikel finden verschiedene solche Oszillationen statt – und sie alle beeinflussen einander. Bestimmte Abschnitte der Nanopartikel-Oberfläche, die oft nur eine Breite von wenigen Atomdurchmessern haben, spielen dabei eine bedeutsamere Rolle als andere: Sie sind besonders effiziente „Taktgeber“ und steuern sogar die chemischen Oszillationen anderer Abschnitte.

In dieses Taktgeben können nun Promotoren eingreifen – und genau das ließ sich nun mit den an der TU Wien entwickelten Methoden untersuchen. Wenn man Rhodium als Katalysator verwendet, kann Lanthan als Promotor für katalytische Reaktionen dienen. Daher platzierte man einzelne Lanthan-Atome auf der winzigen Oberfläche eines Rhodium-Nanopartikels. Ein und derselbe Partikel konnte dadurch einmal mit und einmal ohne Promotor vermessen werden. So kann man im Detail sehen, welchen Effekt einzelne Lanthan-Atome auf den Ablauf der chemischen Reaktion haben.

Mit Lanthan ist alles anders

Maximilian Raab, Johannes Zeininger und Carla Weigl haben die Experimente durchgeführt. „Der Unterschied ist enorm“, sagt Maximilian Raab. „Ein Lanthan-Atom kann Sauerstoff binden, und das ändert die Dynamik der katalytischen Reaktion.“ Durch die winzige Menge Lanthan wird die Kopplung zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Nanopartikels verändert.

„Das Lanthan kann bestimmte Taktgeber selektiv ausschalten“, erklärt Johannes Zeininger: „Stellen wir uns vor, ein Orchester hat zwei Dirigenten – da werden wir ziemlich komplexe Musik zu hören bekommen. Der Promotor sorgt dafür, dass es nur noch einen Taktgeber gibt, dadurch wird die Situation einfacher und geordneter.“

Zusätzlich zu den Messungen entwickelte das Team, weiter verstärkt durch Alexander Genest und Yuri Suchorski, auch ein mathematisches Modell, mit dem man die Kopplungen zwischen den einzelnen Bereichen des Nanopartikels simulieren kann. So ergibt sich eine neue leistungsfähige Herangehensweise, chemische Katalyse viel präziser als bisher zu beschreiben: Nicht nur auf Basis von Input und Output, sondern in einem komplexen Modell, das berücksichtigt, wie unterschiedliche Bereiche des Katalysators zwischen Aktivität und Inaktivität hin und her wechseln und sich dabei – gesteuert von Promotoren – gegenseitig beeinflussen.

Die Arbeiten wurden vom FWF gefördert (P32772-N und SFB TACO F81-P08). (Florian Aigner)

Originalpublikation:
M. Raab et al.: Lanthanum modulated reaction pacemakers on a single catalytic nanoparticle; Nature Communications, 14, 7186 (2023)

Externer Link: www.tuwien.at

Quantenmaterialien: Supraleiter läuft unter Druck zur Hochform auf

Presseinformation des KIT (Karlsruher Institut für Technologie) vom 07.11.2023

Publikation in Science: Quantenmechanische Anregungen der Elektronen in Strontiumruthanat erhöhen Supraleitung und erleichtern Verformung

Der Supraleiter Strontiumruthanat stellt die Wissenschaft vor viele Fragen. Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe (MPI CPfS) in Dresden haben nun festgestellt, dass mechanischer Druck die Supraleitung erhöht und zugleich die Verformung des Materials erleichtert. Dies führen sie auf quantenmechanische Anregungen der Elektronen zurück. Ihre Arbeit trägt zum Verständnis des Wechselspiels von elastischen und elektronischen Eigenschaften bei. Die Forschenden berichten in der Zeitschrift Science.

Supraleiter sind Materialien, die beim Unterschreiten einer bestimmten Temperatur, der sogenannten Sprungtemperatur, keinen elektrischen Widerstand aufweisen. Dies macht sie unter anderem für verschiedene Anwendungen der Energiewandlung und -verteilung interessant. Bei Strontiumruthanat (Sr2RuO4) hat die Wissenschaft noch nicht verstanden, wie es zur Supraleitung kommt. „Die konventionelle Theorie lässt sich auf Strontiumruthanat nicht anwenden. Doch die Quantenmechanik bringt uns weiter, denn mit ihr lassen sich nicht nur die Eigenschaften einzelner Atome und Moleküle, sondern auch die kollektiven Eigenschaften von Vielteilchensystemen beschreiben“, sagt Professor Jörg Schmalian, Leiter des Instituts für Theorie der Kondensierten Materie (TKM) des KIT sowie Leiter der Abteilung Theorie der Quantenmaterialien am Institut für QuantenMaterialien und Technologien (IQMT) des KIT.

Mechanischer Druck entlang einer Richtung erhöht Sprungtemperatur

Schmalian ist einer der Hauptautoren der in der Zeitschrift Science veröffentlichten Studie. Forschende an mehreren Instituten des KIT und am MPI CPfS hatten bereits 2022 in einer Publikation in der Zeitschrift Nature demonstriert, wie sich durch mechanisches Drücken entlang einer bestimmten Richtung die Sprungtemperatur von Strontiumruthanat deutlich erhöhen lässt und wie dabei das Anregungsverhalten der Elektronen verändert wird. Zusammen mit internationalen Partnern stellten die Forschenden aus Karlsruhe und Dresden nun fest, dass genau dieser Druck, der die Supraleitung stark erhöht, das Material mechanisch wesentlich weicher macht, sodass Verformungen erleichtert werden. Dies führen die Forschenden auf eine quantenmechanische Resonanz der Schwingungen der Elektronen zurück.

Vor rund 60 Jahren sagte der sowjetische Physiker Ilja M. Lifschitz ein mechanisches Aufweichen vorher, das heute als Lifschitz-Übergang bekannt ist. „Der Effekt, den wir nun identifiziert haben, ist jedoch mehr als tausendmal größer und lässt sich klar mit der Verstärkung von Supraleitung in Verbindung bringen. Das ist verblüffend, weil weniger als ein Prozent der insgesamt im Material existierenden Elektronen eine Reduktion der elastischen Konstanten um 20 Prozent erzwingen“, erläutert Schmalian.

Einige wenige stromführende Elektronen haben das Sagen

Um die Untersuchung des Wechselspiels von elastischen und elektronischen Eigenschaften geht es auch im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Transregio ELASTO-Q-MAT, in dem das MPI CPfS und das KIT stark vertreten sind. Für die in Science publizierte Studie entwickelten Forschende des KIT ein Modell des Effekts, bei dem einige wenige der stromführenden Elektronen alle anderen beherrschen und das Material viel weicher machen können. Die Messungen dazu liefen am MPI CPfS in Dresden. „Ilja M. Lifschiz machte in seiner Theorie keinen Fehler“, betont Schmalian. „Unsere Studie bietet jedoch eine neue Perspektive und eröffnet die Möglichkeit, in Zukunft starke Quantenfluktuationen im Labor zu manipulieren und Materialien für einen gegebenen physikalischen Effekt zu optimieren.“ (or)

Originalpublikation:
H. M. L. Noad, K. Ishida, Y.-S. Li, E. Gati, V. Stangier, N. Kikugawa, D. A. Sokolov, M. Nicklas, B. Kim, I. I. Mazin, M. Garst, J. Schmalian, A. P. Mackenzie, and C. W. Hicks: Giant lattice softening at a Lifshitz transition in Sr2RuO4. Science, 2023. DOI: 10.1126/science.adf3348

Externer Link: www.kit.edu